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Umberto Boccioni

Der Name Boccioni bedeutet für Italien und damit für Europa die Befreiung von der
Auffassung der Kunst als Kunstgeschichte. Die Durchschnittsmaler der ganzen Erde lebten
und leben seit Jahrhunderten von den Meistern der Renaissance, alle die unzähligen Schüler
und Schülersschüler wurden von der Kunstgeschichte zu Meistern ernannt, ihre Kopien der
wenigen wirklidien Meister in sämtlichen Museen und staatlichen Instituten dicht nebenein*
ander und übereinander aufgehängt. Die Rahmen vergoldeten verbräunte Bilder und die
Namen ihrer Macher wurden in das goldene Buch der Kunstgeschichte sorgfältig notiert.
Rahmen und Bücher sind geduldig. Der Sah des Buchs der Kunstgeschichte bleibt ewig stehen
und das Gold der Rahmen wird nachgeblättert. So wirken die Bilder, so werden die Bilder
immer verbräunter, bis der gesunde Mensch über die Farbe wischt, die Schminke ist. Boccioni
fuhr mit seiner starken Fland durch die Galerien Italiens, der Staub von Jahrhunderten fiel
hinunter, die sogenannte alte Kunst war tot und damit das Geschäft Italiens. Museumsdirektoren
und Hotelwirte protestierten. Die Gebildeten der ganzen Erde waren entrüstet. Weil Einer
gerüstet in den Kampf zog. Die Gebildeten taten, was Entrüstete tun: sie schrieen. Der
Sieger ist stets unbeliebt. Die Gebildeten fühlten sich der Schät$e ihres Gedächtnisses beraubt.
Sie hatten den ganzen Sah des dicken Buches auswendig gelernt. Die wohlgezählten Namen
sollten nicht einen Centesimo wert sein. Wo doch jede namenlose Madonna namenlose Heere
von Deutschen und Engländern nach Italien zog. Alle Börsen waren ihnen geöffnet. Und da
zu jedem Geschäft ein guter Name gehört, wurde Italien zur Kunstbörse der Welt ernannt.
Mit der Kunst liehen sich Geschäfte machen, aber die Kunst macht keine Geschäfte. Boccioni
war ein Romane und wurde ein Künstler, der also das Romantische hassen muhte. Er fühlte
und wuhte, dah Kunst Ordnung ist. Ordnung, die Romantiker Militarismus nennen. Darum
erklärte Boccioni der Erde den Krieg: „Wir wollen den Krieg preisen — diese einzige Hygiene
der Welt — den Militarismus, den Patriotismus“. Dieser Sah Boccionis ist so oft falsch ver*
standen worden, als man Bilder zu verstehen sucht. Nicht nur Bilder, auch Gedanken werden
in das beliebte Reich der Tatsachen hinabgezogen. Alles Unglück dieser Erde stammt von der
Verwirklichung des Geistigen. Davon, dah Gleichnisse in Bar umgeseht werden. Während
doch alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist. Kunst ist Gleichnis und Gleichnis ist Tat. Was
wir tun, ist geschehen und was wir nicht tun, geschieht. Es gibt keine andere Anschauung
für den Künstler und für die Kunst. Diese Anschauung ist keine Richtung, es ist das Schauen.
Boccioni war für den Krieg als geistiges Phänomen. Er war Künstler und wollte wie jeder
Künstler das sogenannte Leben aus der Kunst drängen. Als er im Uebermut seines Kunst*
gefühls Kunst in das sogenannte Leben treiben wollte, stürzte er. Kunst ist unmenschlich, sie
tötet, wer sie vermenschlichen will. Boccioni sah den Irrtum seiner Jugend. Wenige Tage vor
seinem Tode schrieb er: „Aus dieser Existenz werde ich mit einer Verachtung für alles hervor*
gehen, das nicht Kunst ist. Nichts ist furchtbarer als die Kunst. Alles was ich gegenwärtig sehe,
ist ein Spiel gegen einen richtiggezogenen Pinselstrich, einen harmonischen Vers, einen wohl*
gesetzten Akkord. Alles, damit verglichen, ist Sache des Mechanischen, der Gewohnheit,
der Geduld, des Gedächtnisses. Es gibt nur die Kunst“.

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