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Zur Formulierung der neuen Kunst

Jede Formulierung in der Kunst ist unglücklich, weil sie gestaltete Formen in
Formeln verwandelt. Viele Formelbücher der neuen Bewegung in den bildenden
Künsten sind erschienen. Sie sind meistens schon deshalb wertlos, weil sie nicht zur
neuen Kunst, das will heißen, zur Kunst, führen, sondern weil sie statt eines Begriffs
einen anderen Begriff seßen. Sie sind wertlos, weil sie auf Grund zufälliger Bilds
bekanntschaften geschrieben werden und den Künstler nicht von dem Nachahmer unters
scheiden. Weil die Schreiber dieser Bücher nur die Theorie und nicht die Bilder sehen.

Das erste Schlagwort für die gesamte neue Kunst war das Wort Futurismus.
Die Futuristen, eine Gruppe italienischer Maler, bildeten den Uebergang vom Neos
impressionismus (Pointilismus) zum Expressionismus. Der theoretische Wortführer dieser
Gruppe ist der Schriftsteller F. T. Marinetti. Zu dieser Gruppe gehörten drei bedeutende
Künstler: Umberto Boccioni (f), Carlo D. Carra und Gino Severini. Die Futuristen
gehen vom Gegenständlichen aus, verwenden es aber nicht mehr zum Zweck und im
Sinn der Nachahmung. Sie verwandeln das individuelle Erlebnis zum typischen und
vor allen Dingen zum optischen. Sie suchten die Abstraktion von der Naturnachahmung
durch die optische Gestaltung von begrifflichen Abstraktionen zu erreichen.

Fast zur gleichen Zeit entstand die Bewegung, die man Expressionismus nennt.
Die Expressionisten verzichten auf die Nachahmung äußerer Eindrücke. Sie erkennen
nach vielen Jahrhunderten wieder das Wesen der Kunst. Das Bild ist ein Organismus,
dessen Teile aus Farbformen zusammengesetzt (komponiert) werden. Die Komposition
geschieht ausschließlich nach den künstlerisch logischen Beziehungen der Farbform. Das
Bild ist gesetzmäßig gestaltet. Nur werden diese Gesetze der Kunst nicht von dem
Künstler oder von dem Theoretiker, sondern von der Fläche diktiert. Jede Bewegung
wird erst durch mindestens eine Gegenbewegung sichtbar. Diese rhythmischen Be*
Ziehungen sind das Leben des Bildes. Das Bild ist ein Organismus, also räumlich be*
grenzt. Ein Organismus besteht nur aus organischen Teilen.

Der Begriff Expressionismus ist im Gegensaß zum Impressionismus gebildet
worden. Die ungeheure Wirkung des Expressionismus, eine Wirkung, die nur eine
Kunst wende hervorrufen kann, hat zahllose Künstler veranlaßt, sich expressionistisch
zu gebärden oder sich Expressionisten zu nennen. Künstler, die auch nicht das geringste
mit dieser Kunstwende gemein haben. Die Fachkritik, die sich sehr gegen ihren Willen
mit dieser Bewegung in den Künsten beschäftigen mußte, versuchte, sich so zu helfen,
wie sie sich stets geholfen hat. Sie behauptete einfach, von Künstlern, deren Namen
ihr bekannt, die aber dem großen Publikum noch nicht allzu bekannt waren, diese
Künstler seien eben die Expressionisten. Da die Fachkritik das Wesen der Kunst nie
erkannt hat, und da sie eben so gern über Bilder schreibt, wie sie ungern Bilder sieht,
begnügte sie sich damit, alles das als Expressionismus zu stempeln, was ihr nicht als
normales Bild erschien. Verführt durch das Wort Expression, redete man sich und den

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