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Das Sehen der Kunst

Der größte Teil der Zeitgenossen ist zu stolz auf seine Augen, mit denen er
nicht einmal sehen gelernt hat. Br verlangt vom Bildwerk die Wiedergabe des eigenen
optischen Eindrucks, der nicht einmal sein eigener ist. Hätte er ihn, so wäre er sdion
künstlerisch. Künstler sein heißt eine eigene Anschauung gestalten können. Die Einheit von
Anschauung und Gestaltung ist das Wesen der Kunst, ist die Kunst. Die großen Neuerer
des neunzehnten Jahrhunderts haben ein doppeltes Erbe hinterlassen, ein materielles, das
ihren Nachfolgern und Nachahmern von heute zufiel und das diese angstvoll festhalten,
und ein geistiges, das man Expressionismus nennt, jene klammern sich an die Form,
die Größere geschaffen haben. Statt Eigenes zu gestalten, ahmen sie Gestalten ver*
gangener Bilder nach. Und zwar nur die Bilder, nicht einmal die so kläglich oft
herbeigerufene Natur. Und Nachahmung kann nie Kunst sein. Es bedeutet nichts,
geliebte Bilder nachzufärben oder die geliebte Natur zu verfärben. Die affenhafte
Fähigkeit, nachzuahmen, vermißt man bei den Künstlern der Gegenwart, die das
geistige Erbe der großen Neuerer angetreten haben. Man redet von dem Fehlen der
Form und meint das Fehlen der Uniform. Menschen sind wir zwar alle, aber troßdem
gleicht kein Körper dem andern. Das Gleichen wird nur durch die Uniform vorge*
täuscht. Man bleibt sich gleich, auch wenn die Uniform mit der Mode wechselt. Selbst
ein Sich=Zurückanziehen in Biedermeierröcke, Krinolinen, römische Togen oder griechische
Faltenkleider ändert am Körper nichts. Und den Körper der Kunst ändert nicht einmal
das Licht von außen, nicht einmal das HelbDunkel. Den Körper ändert ausschließlich
der Geist, dem der Körper dient. Den Körper ohne Geist zu malen, ist keine Kunst.
Man malt aber noch nicht geistig, wenn man Geister malt. Selbst ein schöner Geist
ist nur ein Schöngeist, also kitschig. Kunst ist die Gestaltung des geistigen Erlebnisses.
Das Einzige, was den Künstler bindet und zugleich ihm Halt gibt, ist das Material
seiner Kunst. Jede konventionelle Form aber ist ein Gerüst für einen einstürzenden
Bau oder ein Korsett für einen verfallenden Körper. Kunst ist Geburt und nicht Wieder*
gebürt, auch wenn man sie Renaissance nennt. Wenn man eine edle Frucht genießen
will, muß man die Schale opfern. Auch die schönste Schale hilft nicht über die Schal*
heit des Innern. Der Künstler malt, was er schaut mit seinen innersten Sinnen, den
Ausdruck, die Expression seines Wesens. Der Künstler ist sich bewußt, nur ein Wesen
der Wesenheit zu sein. Er ist vergänglich und deshalb sich selber wie alles Vergäng*
liehe ihm nur ein Gleichnis. Er spielt im Leben, er spielt mit dem Leben, er spielt
Leben. Der Eindruck von außen wird ihm der Ausdruck von innen. Er ist Träger
und Getragener seiner Visionen, seiner inneren Gesichte. Kann e r dafür, das Gesichter
anders aussehen. Wurde Beethoven sein Rhythmus vormarschiert? Wohl aber ließ er
Menschenheere aller Länder nach seinem Willen stürmen, siegen oder fallen. Große
Meister der älteren Zeit, Matthias Grünewald und Greco, Seghers und Cezanne bildeten
die Menschheit nach ihren Bildern. Die jüngst vergangene Malerei stellte die
Menschheit für Kostümfeste zu Wasser und zu Lande. Die Künstler haben nicht

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