Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die meisten Menschen leben in Begriffen, die sie nicht begriffen haben, die sie
aber greifen. Jeder Mensch hat an sich und in sich die Fähigkeit zum künstlerischen
Erlebnis. Er hat sie nur durch Lernen verlernt. Um zur Kunst zu kommen, muß man
verlernen. Man muß wieder sehen lernen, um zum Schauen zu kommen. Um Schauen
zu lernen, beginne man wieder mit dem Sehen der Wörter. Man spreche kein Wort,
ohne das Wort zu erleben. Man spreche keinen Sah, ohne die Wörter zu hören. Man
habe keinen Grundsatz, ohne in den Grund des Satzes zu blicken. Man spreche keine
Bilder, ohne die Bilder zu sehen. Man sehe. Wie soll man Bilder sehen können, wenn
man täglich Bilder spricht, ohne sie zu sehen. Der Gebildete sagt etwa: „Die Kohlen
sind mir zugesagt, ich warte und warte und siße wie auf Kohlen“. Und er sieht gar
nicht, daß er schon auf den Kohlen sipt, auf die er wartet. Der Gebildete schreibt etwa:
„Vor vielen Läden bildeten sich lange Reihen von Hausfrauen, die sich mit Fleisch und
Dauerwaren versorgten. Mit einem derartigen unvernünftigen Verhalten, schneiden sich
die Hausfrauen ins eigene Fleisch“. Diese Gebildeten bilden sich und Anderen Urteile
über Bilder. Sie wissen, was natürliche Bilder sind. Aber sie schneiden sich ins eigene
Fleisch, wenn sie vor den Bildern wie auf Kohlen sitzen.

Die sprechenden Laien sprechen Bilder und die schreibenden Laien erinnern sich
an Bilder. Der Herr Kritiker findet ein Bild schön, wenn es ihn an Rembrandt erinnert.
Ein Bild ist aber nur schön, wenn es überhaupt nicht an ein Bild erinnert. Sonst
ist es nämlich eine Abbildung. Das Bild ist Gott. Man soll sich keine Bilder von
Gott machen.

Nun wissen die wenigen Maler, die Künstler sind, wieder was ein Bild ist.
Zweitausend vor Christo wußte man in Aegypten, was Bilder sind, man wußte es
dreihundert nach Christo im römischen Kaiserreich, was Bilder sind. Die Maler scheinen
es im Lauf von zwei Jahrtausenden stets zu vergessen, was Bilder sind. Kinder und
Einfältige wissen es stets. Heute stehen wir wieder an einer Zweijahrtausendwende.
Die Zeitgenossen mögen die Augen öffnen, um Genossen dieser Zeit zu sein. Dieser
Zeit des Kunstglückes. Dieser Zeit, wo Götter keine Bilder und Bilder keine Götter
sind. Dieser Zeit, wo Götter Götter und Bilder Bilder sind.

98
 
Annotationen