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sind die großen Dichtungen „Menschheit“ und „Welt wehe“ erst durch Blümners Vortrags*
kunst begreifbar geworden. Und die Kriegsdichtung „Der Letzte“, die übrigens vor dem
Krieg entstand, hat wohl noch jeden Hörer aufs tiefste erschüttert. Rudolf Blümner trug
Stramms Dichtungen allein in Berlin auf 250 Sturmabenden vor. Für die dramatischen
Dichtungen Stramms konnte die Sturmbühne wirken. Hs kam unter meiner Leitung
die Dichtung „Sancta Susanna“ im Oktober 1918 zur LIraufführung in Berlin. Im Winter
1919 veranstaltete ich in Hamburg die Uraufführungen der beiden Dramen „Haidebraut“
und „Kräfte“. Daß die Dichtungen Stramms mit dem üblichen Theaterexpressionismus
nicht zu gestalten sind, spüren heute auch die Theaterfachleute. Die Dramen Stramms
erfordern eine völlige seelische Umstellung des Darstellers, die nur durch eine Aufgabe
der Persönlichkeit, was freilich dem heutigen Theater widerspricht, zu leisten ist.

Die Aufgabe des Sturm ist es also, in der geistigen Umwälzung unserer Zeit
die schöpferischen Künstlerkräfte zu zeigen und ihnen die Anerkennung zu erkämpfen.
Von der Heftigkeit dieser Kämpfe sprechen die Bände der Zeitschrift, in denen Waiden
unermüdlich und in immer gleicher sachlicher Schärfe gegen die Irrtümer der ästhetischen
und kritischen Einstellung vorgeht. Die positive Arbeit für die Kunst ist mit bisher
500 Ausstellungen im Inland und Ausland bekundet. Wohl sagen die Gegner des Sturm,
daß Waiden manchmal einen Nichtkünstler zur Ausstellung angenommen habe, aber auch
die Gegner müssen zugeben, daß in der Ablehnung sich Waiden nie geirrt hat. So ist
im Laufe der Jahre Der Sturm der Maßstab für den expressionistischen Kunstmarkt ge*
worden. Er konnte es werden, da er selbst außerhalb des Kunstmarktes steht. Die Ein*
sichtigen erkennen heute, daß es Waiden nur um die geistigen Phänomene und nicht um
deren wirtschaftliche Ausbeutung geht. Er ist zum Entdecker und Verkünder der Kunst
geboren. Andere sind zum Händler geboren. Darum kann Der Sturm dem Künstler dann
nicht mehr dienen, wenn der Künstler nicht mehr den Verkünder, sondern den Händler sucht.

Der Sturm hat regelmäßig die Versuchung von sich gewiesen, seine kulturelle
Aufgabe zugunsten des Geschäftsunternehmens preiszugeben. Darin beruht die Stärke
Herwarth Waldens und des Sturm. Darum die Abkehr vieler Künstler, die hiermit
freilich ihre eigene Aufgabe verleugnen. Darum die Mißverständnisse in der Oeffent*
lichkeit, die nicht versteht, daß Geschäftssinn und kulturelle LInbedingtheit zwei entgegen*
gesetzte Wege sind. Daher die Feindschaft, die jeder kompromißlose Kampf für die
künstlerische Kultur auslöst.

Ein solcher Kampf ist ebensowenig durch eine Geschäftsunternehmung wie durch
eine Organisation durchzuführen. Denn im geistigen Kampf entscheidet nicht die Macht*
frage, sondern die Erkenntnis. Der Sturm konnte daher niemals eine Organisation werden.
Er ist stets ein Freundeskreis gewesen von Freunden, die aus gleicher Erkenntnis arbeiteten
und die Führung und Durchsetzung ihrer Erkenntnis Herwarth Waiden anvertrauten.
Waren die Erkenntnisse für den einzelnen nicht mehr zwingend, so stand er nicht mehr
in der Kampfreihe. Diese gemeinsame Arbeit aus freiem Willen ist das dem Außen*
stehenden Unverständlichste an der Arbeit des Sturm. Sie ist aber — das wissen wir
— das Entscheidende. Ohne das gewonnene Ziel dieser gemeinsamen Hingabe wäre die
künstlerische Verkündigung des Expressionismus ein Spiel gewesen, ein schönes Spiel,
aber nicht die Lebensnotwendigkeit einer Generation, in der sich die LTmkehr von der
äußeren in die innere Welt sichtbar vollzieht.

Lothar Schreyer

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