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Erstes Kapitel
Der Gotiker
Die Kunst, die Dürer als Knabe, während seiner Lehrjahre, um
sich herum sah, war die Kunst des spätgotischen Stils. Sein Leh-
rer allerdings, Michel Wohlgemut, war nur eine Mittelmäßig-
keit, und Nürnberg, verglichen mit den westdeutschen, den rheini-
schen Schulen, mutet überhaupt etwas provinziell an. Höchst-
leistungen auf dem Gebiete der Malerei und der Graphik fehlen
hier fast ganz. Aber immerhin waren doch auch in Nürnberg
einige Maler tätig, die, wie etwa pleydenwurff, einen Hauch
verspürt hatten von dem großen, freien und reichen Leben jener
Kunst, die damals in Deutschland in Martin Schongauer eine
führende Persönlichkeit besaß. Und Dürers Instinkt, der ihn nach
vollendeter Lehrzeit trieb, nach Kolmar zu gehen, um diese Kunst
an einer ihrer Quellen zu studieren, war sicherlich ein guter In-
stinkt.
Der Stil der Spätgotik wirkt auf uns heute ein wenig müde
und manieriert. Das ausgehende 15. Jahrhundert war matt ge-
worden, nicht nur in der Empfindung der Natur schlechthin,
sondern auch in der Anschauung der Formen. Als Ideal für die
Zeichnung galt das Krause, Gedrehte, Verzwickte, in harten
Ecken immer wieder Absehende der Linkensprache, verbunden mit
einem Hang zum Eleganten, Schmächtigen und Uberzkerlichen.
Was abhanden gekommen war, ist der Sinn für das Einfache
und Einheitliche, für das Starke und Bedeutende. Spätgotische
Figuren stehen schlecht auf den Füßen, ihre Körper sehen kümmer-
 
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