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Die klassische Kunst.

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schwierigsten Art. Man erwartet eine
harte durchschneidende Horizontale
und trockene rechte Winkel; Michel-
angelo hat gemacht, was keiner damals
hätte machen können: alles ist

Wendung und Drehung, die Körper
fügen sich mühelos zusammen, Maria
hält und wird doch nicht erdrückt
von der Dast, der Leichnam entwickelt
sich klar nach allen Seiten und ist
dabei ausdrucksvoll in jeder Linie.
Die emporgedrückte Schulter und
das zurückgesunkene Haupt geben
dem Toten einen Leidensaccent von
unübertrefflicher Kraft. Noch über-
raschender ist die Gebärde Marias. Das
verweinte Gesicht, die Verzerrung
des Schmerzes, das ohnmächtige
Umsinken hatten Frühere gegeben;
Michelangelo sagt: die Mutter Gottes
soll nicht weinen wie eine irdische
Mutter. Ganz still neigt sie das Haupt,
die Züge sind regungslos und nur
in der gesenkten linken Hand ist
Sprache: halbgeöffnet begleitet sie
den stummen Monolog des Schmelzes.

Das ist cinquecentistische Empfindung. Auch Christus zeigt keinen
Zug des Schmerzes. Nach der formalen Seite verleugnet sich die Her-
kunft aus Florenz und dem Stil des 15. Jahrhunderts weniger. Der Kopf
der Maria gleicht zwar keinem andern, aber es ist der schmale feine
Typus, wie ihn die älteren Florentiner liebten. Die Körper sind von
gleicher Art. Michelangelo wird bald nachher breiter, völliger und auch
die Fügung der Gruppe, so wie sie ist, würde er als zu gracil, zu durch-
sichtig, zu locker empfunden haben. Der schwerer gebildete Leichnam
müsste wuchtiger lasten, die Linien dürften nicht so weit auseinander-
gehn, er würde die zwei Figuren zu einer gedrängteren Masse zusammen-
geballt haben.

In den Gewandpartien herrscht ein etwas aufdringlicher Reichtum.
Helle Faltengräte und tiefe, schattige Unterschneidungen, die sich die

Michelangelo. Madonna von Brügge.
 
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