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Die klassische Kunst.

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Reiz. In seiner koloristischen Empfindung hat er wie in seiner Linien-
empfindung dieselbe weiche, fast müde Schönheit, die ihn moderner
als irgend einen anderen erscheinen lässt.

Ohne Andrea del Sarto würde das cinquecentistische Florenz seines
Festmalers entbehren. Das grosse Fresko der Geburt Mariä im Vorhof
der Annunziata giebt uns etwas, was uns Raffael und Bartolommeo nicht
geben: das schöne geniessende Dasein der Menschen im Augenblick,
da die Renaissance ihre Sonnenhöhe erreicht hatte. Man möchte von
Andrea noch viel mehr derartige Existenzbilder haben, er hätte nichts
anderes malen sollen. Dass er nicht der Paolo Veronese von Florenz
geworden ist, lag freilich nicht an ihm allein.

1. Die Fresken der Annunziata.

In der Vorhalle der Annunziata pflegt der Reisende gewöhnlich
den ersten grossen Eindruck von Andrea zu bekommen. Es sind lauter
frühe und ernsthafte Sachen. Fünf Scenen aus dem Leben des heiligen
Filippo Benizzi mit dem Schlussdatum 1511 und dann die Geburt der
Maria und der Zug der drei Könige von 1514. Die Bilder sind in
einem schönen lichten Ton gehalten, anfänglich noch etwas trocken in
dem Nebeneinander der Farben, in dem Geburtsbild aber ist die reiche
harmonische Modulierung Andreas schon vollkommen vorhanden. In
der Komposition sind die ersten zwei Bilder noch locker und lose be-
handelt, mit dem dritten aber wird er streng und giebt eine Fügung
mit accentuierter Mitte und symmetrisch entwickelten Seitengliedern.
Er treibt einen Keil in die Menge herein, dass die Zentralfiguren zurück-
treten müssen und das Bild Tiefe bekommt, im Gegensatz zu der Linien-
Aufstellung dem vorderen Bildrand entlang, wie sie noch Ghirlandajo
fast ausschliesslich hat. Das Zentralschema an sich ist im Historien-
bild nicht neu, aber neu ist es, wie sich die Figuren die Hände reichen.
Es sind nicht einzelne Reihen hintereinander aufgestellt, sondern es
entwickeln sich die Glieder in übersichtlicher und ununterbrochener
Verbindung aus der Tiefe heraus. Es ist das gleiche Problem, was
gleichzeitig, nur in viel grösserem Masstabe, Raffael in der Disputa und
der Schule von Athen sich stellte. Mit dem letzen Bilde, der Geburt
Mariä, geht dann Sarto aus dem tektonisch-strengen in den frei-
rhythmischen Stil über. In prachtvoller Kurve schwillt die Komposition
an: von links her, mit den Weibern am Kamin, beginnend, gewinnt die
 
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