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Zeitschrift für christliche Archäologie und Kunst — 2.1858

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KLEIN EHE AUFSÄTZE UND NOTIZEN. 85

von Ueberlingen haben, und auch das kaum. Unsere Absicht ist nun keineswegs, diesem Mangel durch
eine auslührliche Beschreibung abzuhelfen, sondern vielmehr nur durch das dringendste: „geht und
seh11" zur einzig wirksamen Abhülfe zu mahnen, welche eben nur durch Ocularinspection zu erlangen.
Dabei haben wir nicht blos jenen Ralhsaal, oder andere bestimmte Kunstwerke im Sinn, sondern die ganze
Physiognomie und Signatur jener auch in ihren bürgerlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen merkwür-
dig wohl erhaltenen Reichsstadt und namentlich z. ß. die gewaltigen alten Festungswerke, welche zwar
den tapfern und siegreichen Widerstand begreiflicher machen, den die Bürger wiederholt (z. B. im 30 jähr.
Krieg) grossen Heeren entgegensetzten; aber eben jene Befestigungen selbst, z. B. die doppelte Umfas-
sung mit z. Th. 100 Fuss tiefen in den Fels gehauenen Graben, welche jetzt als so malerisch wilde
Schluchten den Wanderer überraschen — dies Alles ist eben selbst eines der rühmlichsten Denkmäler
tapfern freien Bürgersinns — es sind wahre Römerwerke 1 — Aber wir lassen das Alles um so mehr
hier fallen, da wir gar nicht wissen, ob dergleichen nach der in diesen Blättern geltenden Definition unter
den Begriff christlicher Kunst fallen mag *), wofür sich denn doch viel sagen Hesse. Unsere eigentliche
Absicht, von der wir nur durch den reichen Strom der erfreulichsten Erinnerungen abgetrieben worden,
war die Mittheilung einer Notiz über ein im engern Sinn christliches und kirchliches Kunstwerk, dessen
unseres Wissens nirgends Erwähnung geschieht. Wir meinen den Hauptaltar der dortigen Hauptkirche.
In fast lebensgrossen Figuren stellt er die Anbetung der Hirten (im Hauptfeld) und in einer Nische dar-
über die Krönung der Jungfrau Maria dar (ni fallor — denn darüber ist die Erinnerung unsicher und
die Notiz abhanden gekommen) mit einer reichen Umgebung von Architektur, an und zwischen welcher
Wolken und Engel in anmulhiger Freiheit sich gruppiren. Die vordem Figuren treten ganz hervor, die
zweite Reihe tritt in Hautrelief, die dritte Beihe in Basrelief hervor. Das Material ist Lindenholz, dessen
matter Goldton bei günstiger Beleuchtung (bes. aus der Entfernung, wenn man vor dem Haupteingang auf
dem Markt steht) eine gewaltige Wirkung thut, so dass die Menge der Gestalten (wohl 30—40) ein
wunderbares Leben zu gewinnen scheint. Aber welcher Zeit, welcher Schule, welchem Styl gehört
dies Werk an, so fragt ohne Zweifel der geneigte Leser: antworten wir aber darauf, um ehrlich und kurz
zu sein, mit: „Bococo!", so wäre es wahrscheinlich um unsern guten Namen als Kunstverständiger,
wo nicht gar als guter Christ geschehen — wenn der indignirte Leser ihn wüsstel Und doch stehen
wir nicht an zu behaupten, derjenige Styl, den wir im weitesten Sinne und der Kürze wegen kaum
mit einem anderen als jenem übel berufenen Ausdruck bezeichnen können, und dessen Blüthe wir vom
Ende des 17. bis zu Ende des 18. Jahrb. finden, schliesst in einer gewissen Behandlungsart, innerhalb
gewisser Grenzen und mit gewissen Uebergängen theils nach der mittelalterlich, theils nach der classisch-
akademischen Seite hin, vor Allein aber in den rechten Händen und von einem tüchtigen Künstlergeisl
beherrscht, eine gewisse Berechtigung und sehr bedeutende Leistungen und Eindrücke nicht aus. Statt
jeder weitem Erörterung verweisen wir eben auf jenen Altar, als auf ein unwiderlegliches „argumentum
ad hominem" für Jeden, der ihn mit wirklich unbefangenem Kunstsinn anschaut. Auf weitere Beschrei-
bung oder Definition können und mögen wir uns hier nicht einlassen, doch wollen wir als Vergleichs-
punkt in einem andern Kunstgebiet auf die tüchtigen grossen Kirchenbilder eines Oayers, van Oost,
oder Venius hinweisen und sagen: „denkt euch ein solches Bild in plastische Vorstellung übertragen, so
wisst ihr ungefähr, was an dem Ueberlinger Altar ist." Wendet man dagegen ein, dass jener Styl der
Malerei nicht als Bococo, sondern als etwas rhetorischer Realismus zu bezeichnen ist, so haben wir da-
gegen nichts einzuwenden und lassen diese Definition sehr gern auch dem braven und echten Meisler
zu Gute kommen, der unsern Altar hingestellt und dessen Namen, sowie die genaue Zeit wir in der
Eile nicht haben erfahren können. Uebrigens sind grade wir so streng in diesen Dingen, dass wir
doch dabei bleiben: was in der Malerei noch als rhetorischer Realismus gelten kann, ist in der Plastik
schon Rococo; und so geht denn schliesslich unser Protest doch gegen jene dilettantische Einseitigkeit
und Beschränktheit, welche sich wobt gar etwas drauf einbildet, wenn sie nach gewissen angelernten
Stichwörtern unbesehens Werke verdammt und verachtet oder völlig ignorirt, worin, neben und trotz der
Fehler und Schwächen der Zeit und des Styles, Züge echter Meisterschaft von Gottes Gnaden in Fülle
durchbrechen — wer nur wirklich Sinn und Verstündniss dafür hat. Schliesslich wollen wir übrigens
noch auf diese Kirche auch in sofern aufmerksam machen, als nicht nur ihre Architektur weit höher

*) Gewiss! Kcd.
 
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