Die alte
„Du bist ei» Verbrecher, Hermann."
„Ich bin es nicht — ich bin unschuldig."
„Wie kommst Du zu dem Strumpfbande?"
„Ich habe es genommen in einem Anfalle von Raserei,
bon Wuth. Ich wollte ein Angedenken an sie haben — ich
'war meiner nicht mächtig. , Ich trug die letzten Kleider zu
ihr — jje hMe meinem früheren Meister die Kundschaft
gekündet — ich sah sie vielleicht zum allerletzten Male in
'"einem Leben — sie war in's Nebenzimmer getreten, um
neuen Stücke anzuprobiren. Ich war allein. Auf der
stelle, wo sie kurz vorher gestanden, lag ein Strumpfband
~~ es war das ihre — ich hob es auf — ich küßte es —
'ch wollte es wieder an seine Stelle fallen lassen — ich
finite es nicht — ich zögerte, schwankte; da war es zu spät,
^"e kam mit dem Kammermädchen zurück — ich war verloren."
„Aber wie ist es mit der Schatulle?"
„Ich weiß von keiner Schatulle, ich sah nie eine. Ich
deckte das Strumpfband ein. Es war Alles in der Ordung;
'ch konnte gehen, ich ging."
Der Meister sah seinen Gesellen au. Er sah ihm in
Augen. Diese waren blau und voll Thränen, doch darin
war kein Verbrechen, kein Diebstahl.
Der Meister wurde ruhiger. Er strich sein dünnes,
braunes Haar sinnend empor.
„Du hast nichts zu fürchten," sagte er, „verbrenne das
Strumpfband, cs fällt kein Verdacht auf Dich."
„Verbrennen!" hauchte der Geselle.
Er blickte wehmüthig auf das theure Band. Er küßte es.
„Es ist zu spät, wenn ich es auch könnte. Ihr Junge
^"t cs mir heute aus der Tasche meines Rockes gezogen.
Alle Gesellen haben es gesehen. Sie haben gelacht, gewiehert
sie wollten wissen, von welcher Schönen ich es bekommen
wem ich es geraubt -—• ich bin verloren."
Er weinte, er weinte bitterlich.
„Du bist cs," sagte der Meister.
Die Beiden schwiegen iviedcr.
Plötzlich schrie Herrmann auf. Er schrie ängstlich, ver-
zweiflungsvvll.
„Gensd armen! Sie suchen mich. Retten Sie mich."
Der Meister zuckte zusammen. Es war so. Die Gens-
b armen waren in das Hans getreten. Sie fragen nach
jemand. Sie srugen nach Hermann.
„ Um Gottes willen, retten Sie mich, ehe es zu spät
Wird," ries der Geselle noch angstvoller, noch verzweifelpder.
„Ich kann nicht."
Er konnte nicht. Und doch — ein Gedanke, ein ret-
tender Gedanke in der höchsten Roth kam ihm. Er kam
ihm mit wunderbarer Schnelligkeit.
„Komm!"
Der Geselle kam.
Tie gingen Beide in's Nebenzimmer. Im Nebenzimmer
waren Kisten, Koffer. Darin lagen Kleider zur Versendung
bestimmt. Der Meister öffnete eine der Kisten, einen der
Koffer hastig, zitternd. Er nahm Kleider heraus, warf sie hin.
Muhme. 8
„Lege Dich hinein, schnell."
Hermann legte sich hinein.
Der Meister breitete ein Kleid über ihn. Das Kleid
war von Seide. Er schloß den Deckel. Er schloß ihn fest,
sicher. Dann ging er zurück. Er ging zurück in's Zimmer,
wo die Tische standen. Er setzte sich an den Tisch, auf dem
der Filz lag. Er nahm das Glas, welches sich ans dem
Filze befand. Er trank Bier. Er ward ruhiger, gefaßter.
Die Gensd armen traten ein. Sic traten ein mit festem
Schritt. Sie warfen einen Blick rings herum. Der Blick
war forschend, suchend.
„Wir suchen Ihren Gesellen Hermann, wo ist er?"
„Er ging eben fort."
„Er ist noch hier, er ist im Hanse."
„Nein."
n ^'
„Suchen Sie."
„Wir werden suchen."
Sic suchten. Der Meister führte sie. Er führte sie
in's zweite Zimmer, wo die Kisten, Koffer standen. Er öff-
nete eine Kiste, einen Koffer. Er nahm behutsam ein Kleid
heraus. Das Kleid war kostbar. Er legte es sorgsam auf
einen Stuhl. Dann nahm er ein zivcites. Es war noch
kostbarer. Er behandelte es noch sorgfältiger. Er nahm
ein drittes, es war von Brokat.
„Es ist gut," sagte der erste Gensd'arme (er sah nach
dem ersten aus), „hier halten wir uns zu lange auf, ich
will glauben, daß er hier nicht ist. Führen Sie uns weiter,
führen Sie uns schnell."
Der Meister führte sie schnell. Sie fanden nichts.
Der Meister brachte sie zurück an die Eingangsthüre. Er
wollte sich verabschieden.
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„Du bist ei» Verbrecher, Hermann."
„Ich bin es nicht — ich bin unschuldig."
„Wie kommst Du zu dem Strumpfbande?"
„Ich habe es genommen in einem Anfalle von Raserei,
bon Wuth. Ich wollte ein Angedenken an sie haben — ich
'war meiner nicht mächtig. , Ich trug die letzten Kleider zu
ihr — jje hMe meinem früheren Meister die Kundschaft
gekündet — ich sah sie vielleicht zum allerletzten Male in
'"einem Leben — sie war in's Nebenzimmer getreten, um
neuen Stücke anzuprobiren. Ich war allein. Auf der
stelle, wo sie kurz vorher gestanden, lag ein Strumpfband
~~ es war das ihre — ich hob es auf — ich küßte es —
'ch wollte es wieder an seine Stelle fallen lassen — ich
finite es nicht — ich zögerte, schwankte; da war es zu spät,
^"e kam mit dem Kammermädchen zurück — ich war verloren."
„Aber wie ist es mit der Schatulle?"
„Ich weiß von keiner Schatulle, ich sah nie eine. Ich
deckte das Strumpfband ein. Es war Alles in der Ordung;
'ch konnte gehen, ich ging."
Der Meister sah seinen Gesellen au. Er sah ihm in
Augen. Diese waren blau und voll Thränen, doch darin
war kein Verbrechen, kein Diebstahl.
Der Meister wurde ruhiger. Er strich sein dünnes,
braunes Haar sinnend empor.
„Du hast nichts zu fürchten," sagte er, „verbrenne das
Strumpfband, cs fällt kein Verdacht auf Dich."
„Verbrennen!" hauchte der Geselle.
Er blickte wehmüthig auf das theure Band. Er küßte es.
„Es ist zu spät, wenn ich es auch könnte. Ihr Junge
^"t cs mir heute aus der Tasche meines Rockes gezogen.
Alle Gesellen haben es gesehen. Sie haben gelacht, gewiehert
sie wollten wissen, von welcher Schönen ich es bekommen
wem ich es geraubt -—• ich bin verloren."
Er weinte, er weinte bitterlich.
„Du bist cs," sagte der Meister.
Die Beiden schwiegen iviedcr.
Plötzlich schrie Herrmann auf. Er schrie ängstlich, ver-
zweiflungsvvll.
„Gensd armen! Sie suchen mich. Retten Sie mich."
Der Meister zuckte zusammen. Es war so. Die Gens-
b armen waren in das Hans getreten. Sie fragen nach
jemand. Sie srugen nach Hermann.
„ Um Gottes willen, retten Sie mich, ehe es zu spät
Wird," ries der Geselle noch angstvoller, noch verzweifelpder.
„Ich kann nicht."
Er konnte nicht. Und doch — ein Gedanke, ein ret-
tender Gedanke in der höchsten Roth kam ihm. Er kam
ihm mit wunderbarer Schnelligkeit.
„Komm!"
Der Geselle kam.
Tie gingen Beide in's Nebenzimmer. Im Nebenzimmer
waren Kisten, Koffer. Darin lagen Kleider zur Versendung
bestimmt. Der Meister öffnete eine der Kisten, einen der
Koffer hastig, zitternd. Er nahm Kleider heraus, warf sie hin.
Muhme. 8
„Lege Dich hinein, schnell."
Hermann legte sich hinein.
Der Meister breitete ein Kleid über ihn. Das Kleid
war von Seide. Er schloß den Deckel. Er schloß ihn fest,
sicher. Dann ging er zurück. Er ging zurück in's Zimmer,
wo die Tische standen. Er setzte sich an den Tisch, auf dem
der Filz lag. Er nahm das Glas, welches sich ans dem
Filze befand. Er trank Bier. Er ward ruhiger, gefaßter.
Die Gensd armen traten ein. Sic traten ein mit festem
Schritt. Sie warfen einen Blick rings herum. Der Blick
war forschend, suchend.
„Wir suchen Ihren Gesellen Hermann, wo ist er?"
„Er ging eben fort."
„Er ist noch hier, er ist im Hanse."
„Nein."
n ^'
„Suchen Sie."
„Wir werden suchen."
Sic suchten. Der Meister führte sie. Er führte sie
in's zweite Zimmer, wo die Kisten, Koffer standen. Er öff-
nete eine Kiste, einen Koffer. Er nahm behutsam ein Kleid
heraus. Das Kleid war kostbar. Er legte es sorgsam auf
einen Stuhl. Dann nahm er ein zivcites. Es war noch
kostbarer. Er behandelte es noch sorgfältiger. Er nahm
ein drittes, es war von Brokat.
„Es ist gut," sagte der erste Gensd'arme (er sah nach
dem ersten aus), „hier halten wir uns zu lange auf, ich
will glauben, daß er hier nicht ist. Führen Sie uns weiter,
führen Sie uns schnell."
Der Meister führte sie schnell. Sie fanden nichts.
Der Meister brachte sie zurück an die Eingangsthüre. Er
wollte sich verabschieden.
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die alte Muhme"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 42.1865, Nr. 1017, S. 3
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg