Kahn, Gustave: Das Weib in der Karikatur Frankreichs: mit 448 Textillustr. und 72 farbigen Kunstblättern nach seltenen und amüsanten französischen Karikaturen aus allen Zeitepochen (Stuttgart, 1907)

Die unlersren gesellschaftlichen Schichten in der Karikatur.

* -i-

-I-

Diese Schwenkung in
der Entwicklung der Karika-
tur des 19. Iahrhunderts
verdient eine eingehendere
Behandlung. BeiCarleVer-
net, der von den Künstlern
des 18.Jahrhunderts ausgeht,
ist die Karikatur die Charge
des wihigen Ateliers. Frei-
lich erscheint da schon die

Tanz dcr Zigeuncrin. (Schattcnspicl.)
ZSö. Radicrung von Hcnry Detouche.

Daumier, Gavarni, Degas, Raffaelli und Steinlen haben die Kunst mit
demselben Eifer demokratisiert, wie es der Naturalismus hinsichtlich der Literatur
getan hat. Die Literatur stieg allmählich von den höheren Klassen zu jenen des
Volkes hinunter und wendete sich dem Leben der Allgemeinheit und des Wochen-
tages zu. Sie ging vom Roman Stendahls, in welchem einige Jndividualitäten
in ihrem leidenschaftlichen und moralischen Spiel in derselben W'eise wie bei dem
philosophisch veranlagten Crebillon untersucht werden, zu Balzac über, der das
Milieu belebt, seine Personen in Bewegung bringt, sie mit den politischen Zu-
ständen ihrer Zeit in Beziehung seht und sie in dem Spiegel der stetig sich ver-
wickelter gestaltenden Aktualität betrachtet. Der Noman von Balzac, in welchem
der Bauer und der Arbeiter nur Ausnahmen bilden, erweitert sich im Roman von
Goncourt; denn hier wird bereits die Figur des Germinie Lacerteux, der sich am
Abend aus den Boulevards des ärmeren Lasters herumtreibt, und Elisa, die sich in
den düsteren Kammern der geschlossenen Ääuser und im Gefängnis bewegt, eingehend
beschrieben. Nochumsaffender
wird das Stoffgebiet im No-
man von Zola, in welchem die
Vorstadt sich schon ganz auf
der Obersiäche des Lebens
zeigt. Ebenso steckt auch die
Karikatur ihre ursprünglichen
Ziele immer weiter und betritt
neue Wege, welche denen der
Modcrnen parallel laufen.

409

52