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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 16.1918

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Heft 3
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Lichtwark, Alfred: Der junge Künstler und die Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.4745#0101

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DER JUNGE KUNSTLER UND DIE WIRKLICHKEIT

VON

ALFREDLICH T WA R K

Wie viele Maler giebt es wohl in Deutsch-
land, die, ohne einer Neigung des Publi-
kums ihre Uberzeugung zu opfern, von der Aus-
übung ihrer Kunst das Leben gewinnen? Ich wage
nicht, die Ziffer hinzusetzen, die mir nach Um-
fragen und Beobachtungen wahrscheinlich gewor-
den ist.

Die Künstler wissen es alle, wie niedrig sie ist,
und sie wissen auch, dass der Posten für Kunst im
Budget der modernen Staaten und der Privatleute,
vom Bankier bis zum Dienstmädchen, ungezählte
und unzählbare Millionen das Jahr beträgt. Zu
den Ausgaben für Bau- und Kunstakademien, Kunst-
schulen und Gewerbeschulen aller Art, Ausstellungen,
Museen, Publikationen, wie sie der Staat und die
Spekulation in Einzelwerken und Zeitschriften auf
den Markt bringen, müssen auch die Millionen
und Millionen hinzugerechnet werden, die die
Berufs- und die Liebhaberphotographie kosten.
Heute leben in jeder deutschen Grossstadt mehr
wohlhabende oder reiche Photographen als im
ganzen Reich Maler von derselben Steuerklasse,
und wo in einer Kleinstadt kein noch so be-
scheidener Kunstmaler sein Brot fände, bewohnt
der Photograph ein Landhaus. Was aber die
Photographen machen, war früher Aufgabe des
Künstlers.

Diesem ungeheuren und ganz regelmässigen
Aufwand für den ganzen Umfang des Gebietes der
Kunst, den keine frühere Zeit gekannt hat, ent-
spricht das Ergebnis weder für das Volk, das fast
nur Surrogate bekommt, noch für die künstlerischen
Begabungen, die am Ufer des Stroms der Millionen
stehen und sich nicht einmal mit einem nassen
Finger die Einbildung eines Trunkes schaffen
dürfen.

Der junge Künstler unserer Tage — ich meine

Anm. d. Red.: Dieses ist ein, aus einer Tischrede im
Jahre 1909 entstandener Aufsatz Lichtwarks, der bisher nur
innerhalb eines intimen Kreises Hamburger Kunstfreunde be-
kannt geworden ist. Indem wir ihn hier einer breiteren
Öffentlichkeit mitteilen, weisen wir zugleich darauf hin, dass
in den nächsten Wochen eine zweibändige Auswahlausgabe
der» Schriften Lichtwarks, die Dr. Wolf Mannhardt besorgt hat,
im Verlag von Bruno Cassirer erscheinen wird. Dieser Ausgabe
werden später zwei Bände Briefe an die Kommission der
Hamburger Kunsthalle, herausgegeben von Gustav Pauli, folgen.

die schätzbare Durchschnittsbegabung, die von der
Umwelt abhängig ist, nicht das Genie, das sie um-
zugestalten oder zu zerstören und neuzuschaffen die
Kraft hat — lebt inmitten dieser neuen Zustände
eigentlich nicht mehr in einer wirklichen Welt.
Eine Wolke von falschen Voraussetzungen verhüllt
ihm den Blick. Er weiss nicht mehr recht, was die
Dinge um ihn herum und er selbst eigentllich sind
und wollen. Er täuscht sich über die Welt und
sich selbst, und die Welt täuscht sich über ihn, in-
dem sie ihn für viel mehr und zugleich viel weniger
einschätzt, als was er wert ist.

Was bedeutet, um bei dem Kern anzufangen,
sein Talent? Es ist ihm der höchste, edelste Besitz.
Er glaubt sich vor allen begnadet. In Wirklichkeit
ist Talent eher ein Fluch.

Denn in zehntausend Fällen handelt es sich um
nichts anderes als eine erkennbare Leichtigkeit der
Nachahmung undWiederholung vorhandener Kunst.
Diese Art Talent ist so häufig, dass, wenn eine be-
liebige Klasse eines Gymnasiums oder einer Kriegs-
schule unbesehen in eine Akademie eingeschoben
würde, ziemlich dasselbe herauskäme wie mit einer
durchschnittlichen Malklasse. Denn irgendein Ta-
lent pflegt als Begleiterscheinung der Pubertät auf-
zuflackern, um, wenn der Körper sein Mass er-
reicht hat — oder schon früher —, zu erlöschen.
In der einen Generation wird jeder aufgeweckte
Junge eine Zeitlang Dichter, in der anderen Philo-
soph, heute Maler, im nächsten Jahrzehnt wohl
eher Rockefeiler.

Aber da es einige wenige Künstler heute aus-
nahmsweise zu äusserem Erfolg bringen, und da
alle Zeitungen von hohen Bilderpreisen voll sind,
so glaubt der vom Talent Befallene, glauben seine
Eltern, Lehrer und Gönner, die Gabe für voll
nehmen und ein Leben darauf gründen zu dürfen.
Was aber in neunhundertneunundncunzig Fällen
ein Irrtum war. Wer ein Menschenalter diese
Künstlerwerdung aus der Nähe beobachtet hat und
nachrechnen kann, was dabei herausgekommen ist,
den überläuft es kalt.

In einigen wenigen Fällen bleibt das Talent

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