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Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Editor]; Institut für Denkmalpflege [Editor]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Die Bilderdecke der Hildesheimer Michaeliskirche — München, Berlin: Dt. Kunstverl., Heft 28.2002

DOI issue:
Geistesgeschichtliche Annäherung
DOI article:
Lemmel, Andreas: Der biblische Hintergrund und Sinngehalt des Deckenbildes
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.52523#0020
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16 Geistesgeschichtliche Annäherung

Der biblische Hintergrund und Sinngehalt des Deckenbildes
Malereien wie das Deckenbild der Hildesheimer Michaeliskirche spiegeln gleichsam die intellektuelle Kultur ihrer Ent-
stehungszeit wider. Andreas Lemmel führt die biblischen Quellen an, die der Decke zugrunde liegen. Er zitiert aus dem
Alten und Neuen Testament und gibt Erklärungen zu den dargestellten Personen; er schlüsselt die genealogische Ab-
folge der Vorfahren Christi auf und identifiziert die Propheten anhand ihrer Schriftbänder. Der Autor stellt die Figuren
in den Bedeutungszusammenhang ihrer biblischen Überlieferung und erschließt damit umfassend den Sinngehalt die-
ses beeindruckenden Zeugnisses hochmittelalterlicher Geschichte.

Andreas Lemmel
Der Aufbau im Überblick
Im Mittelpunkt des Deckenbildes der Michaeliskirche steht
der Jessebaum, ein Stammbaum, der von Isai (= Jesse),
dem Vater des Königs David, zu Jesus führt. Das Motiv
geht auf weit verbreitete Vorlagen zurück, zunächst in der
Buchmalerei, dann auch im Kirchenbau, besonders in
Glasfenstern und auf Wand- und Deckenmalereien. Auf
dem Hildesheimer Deckenbild leitet die Stammfolge von
Isai [2]1 über vier Könige des Alten Testaments [3-6] zu
Maria [7] über und endet bei dem zum Weitenherrn er-
höhten Christus [8], Der Jessebaum ist die bildliche Dar-
stellung einer Weissagung des Propheten Jesaja (11, 1)2:
„Es wird hervorgehen ein Reis aus dem Stamm Isais und
ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen" - ein Vers, der
schon früh auf das Kommen des künftigen Messias aus
Davids Geschlecht gedeutet wurde.
In das Geäst des Baumes sind als Rahmung des Gesamtbil-
des 42 Medaillons [42-59, 62-64, 67-84, 87-89] mit
Vorfahren Jesu eingebunden, die dem Stammbaum des
Lukas-Evangeliums (3, 23-38) entnommen sind. Im Unter-
schied zu Matthäus (1, 1-17), der Jesu Vorfahren in 42
Gliedern bis auf Abraham zurückführt, reicht der iukanische
Stammbaum bis zu Adam und letztlich zu Gott. Damit
schließt sich ein Kreis: Alles hat in Gott seinen Ursprung
und wird zu ihm zurückführen. Diesem Zirkelschluss ent-
spricht die Vorschaltung des Bildes vom Paradies mit
Adam und Eva [1], die die verbotene Frucht vom Baum
der Erkenntnis essen (Gen. 2-3), zur Strafe dafür als Proto-
typen des Menschengeschlechts aus dem Paradies vertrie-
ben werden und nun der Erlösung harren.
Der Weg zur Erlösung wird angekündigt und gewiesen
durch 24 Propheten [11-22, 27-38], die in den rechteckigen
Feldern zwischen den Medaillons und den acht Zentralbil-
dern das dargestellte Geschehen mittels Schriftbänder
kommentieren. Sie kündigen das Kommen des Erlösers an.
Adam und Eva werden an den Ecken gerahmt von allego-
rischen Gestalten der vier Paradiesflüsse [10, 26, 86, 90],
Ihnen entsprechen am östlichen Ende der Decke um das
Bildfeld des thronenden Christus die vier Erzengel [23, 39,
61, 65]. Die Gesamtkomposition wird abgerundet durch
die vier Evangelisten und ihre Symbole [9, 24, 25, 40 und
41,60, 66, 85],

Paradies und Sündenfall [1]
Die biblische Erzählung von der Erschaffung des ersten
Menschenpaares Adam und Eva, ihrer Beheimatung im
Garten des Paradieses und ihrem Ungehorsam gegen das
göttliche Gebot, nicht zu essen von dem einen Baum mit-
ten im Garten (Gen. 2-3), wird der Darstellung des Jesse-
baumes vorgeschaltet. Damit wird die Geschichte des
Jerusalemer Königtums - entsprechend dem Aufbau des
gesamtbiblischen Erzählfadens - aus der Begrenztheit der
Geschichte einer Dynastie oder eines Volkes herausgeho-
ben zu universaler Bedeutung - so wie am Ende Christus
als Herr der Welt und nicht nur als Herr des Volkes Israel
oder der Kirche steht. Der kreisrunde Rahmen um das
Menschenpaar in vollendeter Schönheit inmitten eines
fruchtbaren Gartens ist im Gegensatz zur Einfassung Christi
[8] vielfach durchbrochen. Die von Gott gewollte Voll-
kommenheit seiner Schöpfung ist zwar zerstört, aber noch
zu erkennen. Der verhängnisvolle Griff nach der verbote-
nen Frucht ist getan: Eva hält den angebissenen Apfel in
ihrer erhobenen rechten Hand (vgl. die ganz ähnliche
Geste der Maria [7], die das Wollknäuel hält und ein Ge-
genbild zu Eva darstellt), Adam greift voll Verlangen nach
der Frucht, die versucherische Schlange ringelt sich um
den Baum.
Dass dies nicht die individuelle Tragik eines einzelnen
Menschenpaares ist, sondern Adam und Eva stellvertre-
tend für alle Menschen stehen, wird allein schon durch die
Bedeutung der Namen klar („Adam": „Mensch"; „Eva": „Le-
ben"). Zudem weisen die fünf menschlichen Gesichter im
Geäst des Baumes hinter Eva wahrscheinlich darauf hin,
dass die ganze Menschheit in den Strudel des Ungehorsams
gegen Gott geraten ist. „Denn wie durch den Ungehorsam
des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden
sind ...", schreibt Paulus im Römerbrief (5, 19). Aber nicht
nur das Verhängnis wird dargestellt. Paulus fährt fort:
„... so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vie-
len zu Gerechten." Dies deutet sich ebenfalls im Bild an. In
der Krone des Baumes hinter Adam erscheint - in kühner
Erweiterung der Paradiesgeschichte, aber ganz im Sinne
des Giaubenszeugnisses der Bibel - der segnende Christus.
„Im Anfang war das Wort", bezeugt das Johannes-Evan-
gelium (Joh. 1,1). Von Anfang an begleitet Christus das
Menschengeschlecht. Er segnet nicht die Sünde, aber den
Sünder. Er ist „das A und das 0" [8], der Anfang und das
Ende. Und die Geschichte der Menschen, alle Geschlech-
 
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