36 Kunst- und kulturgeschichtlicher Diskurs
Kunsthistorische Beobachtungen zur Holzdecke von St. Michael
Ihr Verhältnis zur sächsischen Buchmalerei in der älteren Forschung und nach heutigem Wissensstand1
LV/e sehr Restaurierungsmaßnahmen keine absolut zu setzenden Entscheidungen sind, sondern auch den zeitgenös-
sisch bekannten und zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Forschungsstand reflektieren, zeigt unter anderem
der folgende Beitrag.
Die kunsthistorischen Forschungen haben für die Deckenmalerei von St. Michael enge Beziehungen zur sächsischen
Miniaturmalerei des Hochmittelalters ergeben. Der Autor fügt den bereits bekannten sächsischen Buchmalereien im Um-
feld des Wolfenbütteler Musterbuches und des Goslarer Evangeliars, die auf die gleichen Vorlagen wie die Monumental-
malerei in St. Michael zurückgehen, weitere wichtige Belege hinzu. Sie zeigen, dass die Deckenmalerei trotz aller Substanz-
verluste relativ gut erhalten geblieben ist, und stützen darüber hinaus ihre Datierung in das 2. Viertel des 13. Jahrhunderts.
Harald Wolter-von dem Knesebeck
Die berühmte Holzdecke im Langhaus der ehemaligen
Benediktiner-Klosterkirche St. Michael in Hildesheim
(Abb. 1) ist eines der wenigen Zeugnisse dieser ehemals
vermutlich weit verbreiteten Form der Ausschmückung
kirchlicher Räume. Sie wurde schon in Kuglers Handbuch
der Geschichte der Malerei unter den „wenigen erhaltenen
Werken deutscher monumentaler Malerei vom XI. bis in
das XIII. Jahrhundert" als „das grösste, prachtvollste und
künstlerisch bedeutendste" gerühmt.2 Die Decke steht
dabei auf eigenartige Weise zwischen der monumentalen
Wandmalerei und dem Tafelbild.3 Wie Wandmalerei wurde
sie an Ort und Stelle, das heißt in situ, geschaffen. Ihr
Bildträger ist aber keine verputzte Wand, sondern ein
sorgfältig gezimmerter Bohlenverbund. Zugleich steht die
Hildesheimer Decke am Ende einer Entwicklung. Dies mag
der bekannte Bericht verdeutlichen, den der nach 1210
verstorbene Mönch Gervasius zum Neubau der Kathedrale
von Canterbury verfasste. Gervasius vergleicht die alte mit
der neuen Kirche und stellt fest: „In der alten Kirche war
die hölzerne Decke mit hervorragender Malerei verziert,
hier ist das Gewölbe
1 Der Innenraum von St. Michael
nach Osten. Historische Aufnahme
(um 1900)
aus Stein und leichtem
Tuff anmutig zusam-
mengesetzt."4 Diese all-
gemeine Entwicklungs-
tendenz zum Gewölbe
gilt zwar nur für be-
deutendere Kirchenan-
lagen, zu denen aber
St. Michael als Stiftung
und Grabeskirche des
1192/93 heilig gespro-
chenen Bischofs Bern-
ward zählte.5 Im Ge-
gensatz hierzu steht
die Deckenbemalung in
Hildesheim sogar erst
am Ende eines 1193/94,
das heißt nach dieser
Heiligsprechung, be-
gonnenen Umbaupro-
gramms der Kirche.6
Die Baumaßnahmen konzentrierten sich auf den west-
lichen Teil der Kirche mit dem Grab des Heiligen in der
Krypta und umfassten auch eine diesen Bereich aufwer-
tende Einwölbung von Chor, Vierung und Querarmen.
Demzufolge befindet sich ein für sächsische Verhältnisse
als modern zu bezeichnendes Gewölbe direkt neben einer
Holzdecke, die als Ausstattungselement der langen Tradi-
tion der ungewölbten Basiliken angehört.7 Das modernere
Element der Wölbung entstand bemerkenswerterweise vor
der Bemalung der traditionelleren Holzdecke, was allein
schon bautechnische Erwägungen und die jetzt vorliegen-
den dendrochronologischen Daten nahelegen.8 Zugleich
aber trägt die Hildesheimer Decke mit einer so genannten
Wurzel Jesse, mit dem Stammbaum Christi nach der Pro-
phetie Jesajas (11, 1 f.), eines der neuen, erst im 12. Jahr-
hundert zu dieser Form entwickelten Hauptthemen des
Hochmittelalters.9 Ungewöhnlich detailliert reicht er von
den Ureltern im Paradies über Jesse, den Vater Davids, und
David selbst sowie Salomo und weitere Könige der davidi-
schen Dynastie bis zu Maria und schließlich Christus. Dieses
Thema war gerade in den frühgotischen Kirchen Frankreichs
oft an herausragender Stelle in den Glasbildern anzutref-
fen.10 Umfangreiche Glasmalereizyklen traten an die Stelle
der großflächigen Wandmalereien, die aufgrund der neuen
gotischen Gewölbestrukturen und der vergrößerten Fens-
terflächen immer weniger Platz fanden. Auch in Sachsen
gab es in dieser Zeit den Trend, zumindest herausragende
Kirchenneubauten vollständig zu wölben.11 Diese Entwick-
lung schloss aber in einem Bau wie zum Beispiel der ehe-
maligen Stiftskirche St. Blasius in Braunschweig die figür-
liche Bemalung der Gewölbe nicht aus (Abb. 2}.12 In der
Braunschweiger Domkirche wurde der Wurzel Jesse zwar
nur ein Gewölbe und nicht die Decke eines ganzen Lang-
hauses eingeräumt, dafür aber immerhin das Chorgewölbe.
Da die Verwendung einer Holzdecke in einer herausragen-
den Kirche wie St. Michael nicht mehr als selbstverständ-
lich angesehen werden kann, könnten statische Erwägun-
gen eine Rolle gespielt haben, war doch das ottonische
Langhaus nicht für ein Gewölbe angelegt. Zudem hatte es
erst kurz vor der Heiligsprechung Bernwards neue Säulen
mit aufwändigen Kapitellen sowie ornamentalen und fi-
Kunsthistorische Beobachtungen zur Holzdecke von St. Michael
Ihr Verhältnis zur sächsischen Buchmalerei in der älteren Forschung und nach heutigem Wissensstand1
LV/e sehr Restaurierungsmaßnahmen keine absolut zu setzenden Entscheidungen sind, sondern auch den zeitgenös-
sisch bekannten und zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Forschungsstand reflektieren, zeigt unter anderem
der folgende Beitrag.
Die kunsthistorischen Forschungen haben für die Deckenmalerei von St. Michael enge Beziehungen zur sächsischen
Miniaturmalerei des Hochmittelalters ergeben. Der Autor fügt den bereits bekannten sächsischen Buchmalereien im Um-
feld des Wolfenbütteler Musterbuches und des Goslarer Evangeliars, die auf die gleichen Vorlagen wie die Monumental-
malerei in St. Michael zurückgehen, weitere wichtige Belege hinzu. Sie zeigen, dass die Deckenmalerei trotz aller Substanz-
verluste relativ gut erhalten geblieben ist, und stützen darüber hinaus ihre Datierung in das 2. Viertel des 13. Jahrhunderts.
Harald Wolter-von dem Knesebeck
Die berühmte Holzdecke im Langhaus der ehemaligen
Benediktiner-Klosterkirche St. Michael in Hildesheim
(Abb. 1) ist eines der wenigen Zeugnisse dieser ehemals
vermutlich weit verbreiteten Form der Ausschmückung
kirchlicher Räume. Sie wurde schon in Kuglers Handbuch
der Geschichte der Malerei unter den „wenigen erhaltenen
Werken deutscher monumentaler Malerei vom XI. bis in
das XIII. Jahrhundert" als „das grösste, prachtvollste und
künstlerisch bedeutendste" gerühmt.2 Die Decke steht
dabei auf eigenartige Weise zwischen der monumentalen
Wandmalerei und dem Tafelbild.3 Wie Wandmalerei wurde
sie an Ort und Stelle, das heißt in situ, geschaffen. Ihr
Bildträger ist aber keine verputzte Wand, sondern ein
sorgfältig gezimmerter Bohlenverbund. Zugleich steht die
Hildesheimer Decke am Ende einer Entwicklung. Dies mag
der bekannte Bericht verdeutlichen, den der nach 1210
verstorbene Mönch Gervasius zum Neubau der Kathedrale
von Canterbury verfasste. Gervasius vergleicht die alte mit
der neuen Kirche und stellt fest: „In der alten Kirche war
die hölzerne Decke mit hervorragender Malerei verziert,
hier ist das Gewölbe
1 Der Innenraum von St. Michael
nach Osten. Historische Aufnahme
(um 1900)
aus Stein und leichtem
Tuff anmutig zusam-
mengesetzt."4 Diese all-
gemeine Entwicklungs-
tendenz zum Gewölbe
gilt zwar nur für be-
deutendere Kirchenan-
lagen, zu denen aber
St. Michael als Stiftung
und Grabeskirche des
1192/93 heilig gespro-
chenen Bischofs Bern-
ward zählte.5 Im Ge-
gensatz hierzu steht
die Deckenbemalung in
Hildesheim sogar erst
am Ende eines 1193/94,
das heißt nach dieser
Heiligsprechung, be-
gonnenen Umbaupro-
gramms der Kirche.6
Die Baumaßnahmen konzentrierten sich auf den west-
lichen Teil der Kirche mit dem Grab des Heiligen in der
Krypta und umfassten auch eine diesen Bereich aufwer-
tende Einwölbung von Chor, Vierung und Querarmen.
Demzufolge befindet sich ein für sächsische Verhältnisse
als modern zu bezeichnendes Gewölbe direkt neben einer
Holzdecke, die als Ausstattungselement der langen Tradi-
tion der ungewölbten Basiliken angehört.7 Das modernere
Element der Wölbung entstand bemerkenswerterweise vor
der Bemalung der traditionelleren Holzdecke, was allein
schon bautechnische Erwägungen und die jetzt vorliegen-
den dendrochronologischen Daten nahelegen.8 Zugleich
aber trägt die Hildesheimer Decke mit einer so genannten
Wurzel Jesse, mit dem Stammbaum Christi nach der Pro-
phetie Jesajas (11, 1 f.), eines der neuen, erst im 12. Jahr-
hundert zu dieser Form entwickelten Hauptthemen des
Hochmittelalters.9 Ungewöhnlich detailliert reicht er von
den Ureltern im Paradies über Jesse, den Vater Davids, und
David selbst sowie Salomo und weitere Könige der davidi-
schen Dynastie bis zu Maria und schließlich Christus. Dieses
Thema war gerade in den frühgotischen Kirchen Frankreichs
oft an herausragender Stelle in den Glasbildern anzutref-
fen.10 Umfangreiche Glasmalereizyklen traten an die Stelle
der großflächigen Wandmalereien, die aufgrund der neuen
gotischen Gewölbestrukturen und der vergrößerten Fens-
terflächen immer weniger Platz fanden. Auch in Sachsen
gab es in dieser Zeit den Trend, zumindest herausragende
Kirchenneubauten vollständig zu wölben.11 Diese Entwick-
lung schloss aber in einem Bau wie zum Beispiel der ehe-
maligen Stiftskirche St. Blasius in Braunschweig die figür-
liche Bemalung der Gewölbe nicht aus (Abb. 2}.12 In der
Braunschweiger Domkirche wurde der Wurzel Jesse zwar
nur ein Gewölbe und nicht die Decke eines ganzen Lang-
hauses eingeräumt, dafür aber immerhin das Chorgewölbe.
Da die Verwendung einer Holzdecke in einer herausragen-
den Kirche wie St. Michael nicht mehr als selbstverständ-
lich angesehen werden kann, könnten statische Erwägun-
gen eine Rolle gespielt haben, war doch das ottonische
Langhaus nicht für ein Gewölbe angelegt. Zudem hatte es
erst kurz vor der Heiligsprechung Bernwards neue Säulen
mit aufwändigen Kapitellen sowie ornamentalen und fi-