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Müller, Michael Christian; Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [Hrsg.]; Institut für Denkmalpflege [Hrsg.]
Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen: Orgeldenkmalpflege: Grundlagen und Methoden am Beispiel des Landkreises Nienburg/Weser — Hameln: Niemeyer, Heft 29.2003

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https://doi.org/10.11588/diglit.51261#0015
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Ventil geöffnet, strömt der Orgelwind aus der
Windkammer in die Kanzelle und von dieser in die
Pfeifen. Diesem Schema folgte schon die Windlade des
mittelalterlichen und nicht registrierbaren Blockwerks.
Quer zur Richtung der Kanzellen ist nun aber zwischen
der Deckplatte der Windlade und den Pfeifenstöcken,
das heißt dem Brett mit Bohrungen zur Aufnahme der
Pfeifenfüße, Platz für die Schleifen gelassen, die hin-
und herbewegt werden können (y-Achse). Die Schleifen
sind über ein Gestänge mit den Registerzügen am
Spieltisch verbunden (vgl. Abb. 4, 26, 27). Hier, an
Spieltisch oder Spielschrank, laufen somit die Stränge
zusammen, die Ton- bzw. Spieltraktur und die Register-
traktur.
Mit Hilfe dieses letztlich „einfachen" Funktionsprinzips
können sämtliche Pfeifen angesteuert, oder treffender
formuliert, zum Klingen gebracht werden. Was bis hier-
her theoretisch erläutert wurde, lässt sich in Niedersach-
sen auch an einer Denkmalorgel nachvollziehen. Die
Orgel von Rysum (Krummhörn) markiert genau diese
Schritte in der Geschichte des Orgelbaus (Abb. 5):27 Sie
wurde zwischen 1457 und 1513 erbaut, zunächst nach
dem Prinzip des Blockwerks. Der Organist konnte wäh-
len, ob er die Pfeifen im Prospekt der Orgel, den Präs-
tanten, oder sämtliche Pfeifenreihen gemeinsam erklin-
gen lassen wollte. Erst im Zuge einer Veränderung im
Jahre 1513 wurde es ermöglicht, die übrigen Pfeifenrei-
hen einzeln anspielen zu können. Auch der Tastenum-
fang wurde erweitert und entsprach nach dem Umbau
dem Standard, der im 16. Jahrhundert realisiert wurde.
Die Orgel in Rysum ist damit nicht nur ein Klang- und
Kunstdenkmal von höchstem Seltenheitswert, sondern
auch ein äußerst wichtiges Technikdenkmal. Sie illustriert
den Erfindungsreichtum und die handwerklichen
Fähigkeiten der Orgelbauer im 15. bzw. frühen 16. Jahr-
hundert. Mit ihr ist darüber hinaus die entscheidende
Schwelle in der Geschichte des Orgelbaus markiert, die
Schwelle zur registrierbaren Orgel mit mehroktaviger
Klaviatur, mit einem Pfeifenwerk, das nach klanglichen
und architektonischen Erfordernissen organisiert werden
kann, und einem Gehäuse mit künstlerisch gestaltetem
Prospekt. Besaßen viele Orgeln zu früherer Zeit noch kein
Gehäuse, zeigt die Orgel von Rysum Leitlinien des
Gehäusebaus in spätgotischer Zeit. Besonders auffallend
sind der schreinartige, am zeitgleichen Altarbau orientier-
te Prospektaufbau und die Flügeltüren. Letztere dienen
nicht nur optischen Zwecken, sondern bündeln den
Klang der Orgel.
Auf diese Neuerungen wurde in der Folgezeit aufgebaut.
So vollzog sich in den kommenden 200 Jahren jener Vor-
gang, der zu dem auch als „Prototyp"28 der Orgel schlecht-
hin betrachteten Stand der Entwicklung führen sollte, zu
deren Höhepunkten in Norddeutschland die Instrumente
von Arp Schnitger (+ 1719)29 gezählt werden.


5 Rysum, Orgel, Gehäuse mit Prospekt

Schon im Mittelalter bekannt und bis in das 19. Jahr-
hundert hinein eingesetzt wurden Keilbälge zur Gewin-
nung und Bevorratung des Orgelwinds. Mehrere dieser
Keilbälge konnten zu einem System zusammengeschlos-
sen und in so genannten Balghäusern aufgestellt werden.
Calcanten hatten die Aufgabe die „Bälge zu treten".
Nicht ganz auszuschließen war bei dieser Methode, den
Orgelwind zu erzeugen, eine gewisse Windstößigkeit, die
durch den Wechsel der Bewegungsrichtung der
Balgplatte auftrat. Dem sollte der im 19. Jahrhundert
entwickelte Magazinbalg entgegenwirken. Von meist
mehreren Schöpfbälgen wird dem zieharmonikaartig,
häufig als Doppelfaltenbalg konstruierten Magazinbalg
der Orgelwind zugeführt. Durch Gewichte auf seiner
Deckplatte wird der Wind unter gleichmäßigem Druck
gehalten, gleich ob momentan viel oder wenig benötigt
wird. Mit Einführung der Elektrizität wurden die
Schöpfbälge durch elektrische Gebläse ersetzt.30
Das Pfeifenwerk -
Die Register und ihre Funktion
Zwei zentrale Themen für die Zeit vom 16. Jahrhundert
bis hinein in die Mitte des 18. Jahrhunderts waren zum
einen der Pfeifenbau und die Dispositionsentwicklung,
zum anderen die Bedeutung der so genannten Werke
und damit das Entstehen des Werkprinzips. Von ent-
scheidender Bedeutung für beide Vorgänge, die - orgel-
typisch - eng miteinander verzahnt sind, waren Idee und
Kenntnis davon, welche Funktion die unterschiedlichen
Pfeifenreihen für den Klang einer Orgel haben.
Zunächst zu grundlegenden Aspekten:3' Die Register
einer Orgel kann man in zweierlei Hinsicht gruppieren,

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