Die Orgel historisch-systematisch - Eine Einführung zu Aufbau und Funktion15
„Die Orgel ist ohne Zweifel das größte, das kühnste und
das herrlichste aller vom menschlichen Geist erschaffe-
nen Instrumente. Sie ist ein ganzes Orchester, von dem
eine geschickte Hand alles verlangen, auf dem sie alles
ausführen kann." Honore de Balzac16
„So gewiß der musikalische Wert die Hauptsache einer
Orgel ausmacht, so sicher ist die architektonische
Außenerscheinung eines Werkes maßgebend, wenn es
wirkliche Vollendung als künstlerische Schöpfung errei-
chen soll." Ludwig Bürgermeister17
„Malerei ist die Kunst, Geschautes geläutert wiederzu-
geben, Plastik ist die Kunst, Formen zu erfüllen,
Architektur ist die Kunst der Zusammenordnung der
Lebensräume; Musik ist die Kunst, höchste Mathematik
zu durchseelen; Orgelbau aber ist die Kunst, Malerei,
Plastik, Architektur und Musik in einem zu sein." Walter
Supper18
Wie Variationen über ein bekanntes musikalisches
Thema können auch diese drei Zitate erscheinen. Aus
verschiedenen Perspektiven lenken sie den Blick auf
einen Gegenstand, dem man sich in der Tat auf vielfälti-
ge Weise nähern kann. Sie sind damit gleichsam ein
Abbild des komplexen Wesens eines Musikinstruments,
über das schon viel nachgedacht und geschrieben
wurde. 19Sie sind freilich keine Definition, keine Anleitung
zum Orgelbau. Sie wollen umschreiben, was die beson-
deren Eigenschaften der Orgel sind - die Summe aus
Klang, Architektur und Technik - und was das
Orgelbauerhandwerk letztlich sei: eine Kunst im umfas-
senden Sinn. Denn obgleich physikalisch-mathematische
Berechnungen angestellt und der innere Aufbau sowie
der technische Apparat der Orgel konstruiert werden
müssen, steht im Zentrum doch die künstlerische
Absicht, Musik klanglich angemessen hörbar zu machen.
Wie die mit höchster Perfektion „konstruierten" bzw.
komponierten Fugen von Johann Sebastian Bach (1685-
1750) immer auch eine emotionale Ebene ansprechen,
sie also beseelt sind, so wirkt die Orgel über ihren Klang
und ihre optische Erscheinung auf den Zuhörer und
Betrachter. Der Klang verbindet sich mit einer
Komposition oder Improvisation zu Musik, und über den
Prospekt wird die Orgel zum Klangkörper im Klangraum.
Bevor also auf eher nüchterne Weise der Blick auf die
Bestandteile und deren Zusammenwirken gelenkt wird,
sollte hier kurz daran erinnert werden, dass die Orgel
über den langen Zeitraum ihres Gebrauchs im europäi-
schen Raum immer in besonderer Weise auf Menschen
gewirkt hat.20 Nicht zuletzt diese Wirkmacht begründete
die Einführung und Beibehaltung der Orgel im christ-
lichen Gottesdienst.
Anfänge und Grundlagen -
Die Orgel im Mittelalter
Die Anfänge der kultischen Nutzung liegen für unseren
Bereich, das christliche Abendland, im frühen Mittelalter.
Die damals gebauten Orgeln wiederum stellen einen
sinnvollen Ausgangspunkt für eine historisch-systemati-
sche Erläuterung der Orgel dar, denn sie können als
Beispiel für die folgende „Minimaldefinition" dienen, die
bereits sämtliche wesentlichen Charakteristika beinhal-
tet: Die Orgel ist ein „Aerophon aus skalamäßig
gestimmten Eintonpfeifen, die durch ein Gebläse
gespeist und duch Klaviaturen eingeschaltet werden."2'
Diese Definition sagt:
■ Die Orgel ist ein Musikinstrument, das zur Gruppe der
Aerophone, der Blasinstrumente, gehört, also jener
Instrumente, bei denen eine schwingende Luftsäule den
Ton erzeugt.
■ Die Tonerzeugung geschieht in den Pfeifen, das Pfei-
fenwerk ist daher ein wesentlicher Bestandteil der Orgel.
■ Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist die Windanla-
ge, womit hier die Winderzeugung und -regelung sowie
die Windladen, in denen der Orgelwind nach den An-
weisungen des Organisten zu den Pfeifen gelenkt wird,
zusammengefasst sind.
■ Schließlich ist mit den Klaviaturen und den Trakturen
das Regierwerk angesprochen, der dritte wesentliche Be-
standteil einer Orgel, über das der Organist die Ventile in
den Windladen für den Orgelwind öffnen kann und da-
mit die Pfeifen zum Klingen bringt.
Mit dieser „Minimaldefinition" lassen sich bereits die
Funktionsweise und die wichtigsten Bestandteile sowohl
der mittelalterlichen Orgel als auch der heutigen
Instrumente umschreiben, ungeachtet der klanglichen,
architektonischen und technischen Entwicklung, welche
die Orgel in den Jahrhunderten bis heute durchlaufen
hat. So bietet es sich aber umso mehr an, die Entwick-
lung der Orgel in groben Zügen nachzuzeichnen, da sich
in der Geschichte des Orgelbaus, ausgehend von unserer
„Minimaldefinition" bis hin zu den neuesten
Entwicklungen auf dem Gebiet der Elektronik, Aufbau
und Funktionsweise anschaulich erläutern lassen. Blicken
wir also zurück auf die Orgel, wie sie vor gut eintausend
Jahren in Gebrauch war.
Die Orgeln des frühen Mittelalters22 bestanden aus einer
Spielanlage, das heißt einer Tastatur, den Pfeifen, die auf
einem hölzernen Kasten zur Verteilung des Orgelwindes
aufgestellt waren, sowie der Windversorgung (Abb. 1).
Jeder Taste konnten bereits mehrere Pfeifen zugeordnet
sein, der Organist konnte aber noch nicht einzelne
10
„Die Orgel ist ohne Zweifel das größte, das kühnste und
das herrlichste aller vom menschlichen Geist erschaffe-
nen Instrumente. Sie ist ein ganzes Orchester, von dem
eine geschickte Hand alles verlangen, auf dem sie alles
ausführen kann." Honore de Balzac16
„So gewiß der musikalische Wert die Hauptsache einer
Orgel ausmacht, so sicher ist die architektonische
Außenerscheinung eines Werkes maßgebend, wenn es
wirkliche Vollendung als künstlerische Schöpfung errei-
chen soll." Ludwig Bürgermeister17
„Malerei ist die Kunst, Geschautes geläutert wiederzu-
geben, Plastik ist die Kunst, Formen zu erfüllen,
Architektur ist die Kunst der Zusammenordnung der
Lebensräume; Musik ist die Kunst, höchste Mathematik
zu durchseelen; Orgelbau aber ist die Kunst, Malerei,
Plastik, Architektur und Musik in einem zu sein." Walter
Supper18
Wie Variationen über ein bekanntes musikalisches
Thema können auch diese drei Zitate erscheinen. Aus
verschiedenen Perspektiven lenken sie den Blick auf
einen Gegenstand, dem man sich in der Tat auf vielfälti-
ge Weise nähern kann. Sie sind damit gleichsam ein
Abbild des komplexen Wesens eines Musikinstruments,
über das schon viel nachgedacht und geschrieben
wurde. 19Sie sind freilich keine Definition, keine Anleitung
zum Orgelbau. Sie wollen umschreiben, was die beson-
deren Eigenschaften der Orgel sind - die Summe aus
Klang, Architektur und Technik - und was das
Orgelbauerhandwerk letztlich sei: eine Kunst im umfas-
senden Sinn. Denn obgleich physikalisch-mathematische
Berechnungen angestellt und der innere Aufbau sowie
der technische Apparat der Orgel konstruiert werden
müssen, steht im Zentrum doch die künstlerische
Absicht, Musik klanglich angemessen hörbar zu machen.
Wie die mit höchster Perfektion „konstruierten" bzw.
komponierten Fugen von Johann Sebastian Bach (1685-
1750) immer auch eine emotionale Ebene ansprechen,
sie also beseelt sind, so wirkt die Orgel über ihren Klang
und ihre optische Erscheinung auf den Zuhörer und
Betrachter. Der Klang verbindet sich mit einer
Komposition oder Improvisation zu Musik, und über den
Prospekt wird die Orgel zum Klangkörper im Klangraum.
Bevor also auf eher nüchterne Weise der Blick auf die
Bestandteile und deren Zusammenwirken gelenkt wird,
sollte hier kurz daran erinnert werden, dass die Orgel
über den langen Zeitraum ihres Gebrauchs im europäi-
schen Raum immer in besonderer Weise auf Menschen
gewirkt hat.20 Nicht zuletzt diese Wirkmacht begründete
die Einführung und Beibehaltung der Orgel im christ-
lichen Gottesdienst.
Anfänge und Grundlagen -
Die Orgel im Mittelalter
Die Anfänge der kultischen Nutzung liegen für unseren
Bereich, das christliche Abendland, im frühen Mittelalter.
Die damals gebauten Orgeln wiederum stellen einen
sinnvollen Ausgangspunkt für eine historisch-systemati-
sche Erläuterung der Orgel dar, denn sie können als
Beispiel für die folgende „Minimaldefinition" dienen, die
bereits sämtliche wesentlichen Charakteristika beinhal-
tet: Die Orgel ist ein „Aerophon aus skalamäßig
gestimmten Eintonpfeifen, die durch ein Gebläse
gespeist und duch Klaviaturen eingeschaltet werden."2'
Diese Definition sagt:
■ Die Orgel ist ein Musikinstrument, das zur Gruppe der
Aerophone, der Blasinstrumente, gehört, also jener
Instrumente, bei denen eine schwingende Luftsäule den
Ton erzeugt.
■ Die Tonerzeugung geschieht in den Pfeifen, das Pfei-
fenwerk ist daher ein wesentlicher Bestandteil der Orgel.
■ Ein weiterer wesentlicher Bestandteil ist die Windanla-
ge, womit hier die Winderzeugung und -regelung sowie
die Windladen, in denen der Orgelwind nach den An-
weisungen des Organisten zu den Pfeifen gelenkt wird,
zusammengefasst sind.
■ Schließlich ist mit den Klaviaturen und den Trakturen
das Regierwerk angesprochen, der dritte wesentliche Be-
standteil einer Orgel, über das der Organist die Ventile in
den Windladen für den Orgelwind öffnen kann und da-
mit die Pfeifen zum Klingen bringt.
Mit dieser „Minimaldefinition" lassen sich bereits die
Funktionsweise und die wichtigsten Bestandteile sowohl
der mittelalterlichen Orgel als auch der heutigen
Instrumente umschreiben, ungeachtet der klanglichen,
architektonischen und technischen Entwicklung, welche
die Orgel in den Jahrhunderten bis heute durchlaufen
hat. So bietet es sich aber umso mehr an, die Entwick-
lung der Orgel in groben Zügen nachzuzeichnen, da sich
in der Geschichte des Orgelbaus, ausgehend von unserer
„Minimaldefinition" bis hin zu den neuesten
Entwicklungen auf dem Gebiet der Elektronik, Aufbau
und Funktionsweise anschaulich erläutern lassen. Blicken
wir also zurück auf die Orgel, wie sie vor gut eintausend
Jahren in Gebrauch war.
Die Orgeln des frühen Mittelalters22 bestanden aus einer
Spielanlage, das heißt einer Tastatur, den Pfeifen, die auf
einem hölzernen Kasten zur Verteilung des Orgelwindes
aufgestellt waren, sowie der Windversorgung (Abb. 1).
Jeder Taste konnten bereits mehrere Pfeifen zugeordnet
sein, der Organist konnte aber noch nicht einzelne
10