C Inhaltlicher Teil
Orgelbau im Kreis Nienburg
„Will man die Orgelgeschichte eines Landes verstehen,
dann muss man auch die unterschiedlichen Vorausset-
zungen für die regionale musikalische Entwicklung
berücksichtigen, will man sich andererseits über die
Musikgeschichte des Landes ein Bild machen, dann
kommt man nicht umhin, auch die Verbreitung und
Verwendung der Orgel zu untersuchen."'
Mit dieser Aussage, die in ihrem ursprünglichen Zusam-
menhang auf ganz Niedersachsen bezogen ist, wird in
seltener Klarheit aufgezeigt, welch weitreichende Be-
deutung die Orgel als geschichtliches und künstlerisches
Zeugnis für das Verständnis der kulturellen Entwicklung
und Identität einer Region hat. Die Mannigfaltigkeit der
Bedingungsfaktoren, mit denen der Orgelbau seit jeher
in andauernder Wechselwirkung steht, kann und soll im
Rahmen des folgenden Abrisses zum Orgelbau im
Landkreis Nienburg nicht dargestellt werden, denn hier
hinein spielen unterschiedlichste territorial- und kirchen-
geschichtliche, liturgie- und musikgeschichtliche sowie
sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte,2 als deren
Spiegelbild die Kulturdenkmale aufzufassen sind. In
jedem Fall ist nicht nur bezogen auf den Landkreis Nien-
burg in vielerlei Hinsicht noch umfassender Forschungs-
bedarf gegeben - insbesondere zum Orgelbau der Re-
naissancezeit und den Einflüssen aus den Niederlanden.
Anfänge und vorbarocke Zeit
Auch in Norddeutschland hat der Bau von Orgeln eine
Geschichte, die bis in hochmittelalterliche Zeit zurück-
reicht. So ist für das Jahr 1259 eine Orgel im Dom zu
Lübeck bezeugt. 1312 ist eine Orgel im Verdener Dom
nachweisbar, zehn Jahre später in St. Wilhadi in Stade.3
Es handelt sich aber um Instrumente, von denen es
keine Überreste mehr gibt. Zu den frühesten erhaltenen
Orgeln überhaupt zählt jene in Rysum, auf die bereits in
Kapitel A als Beispiel für den Übergang vom mittelalter-
lichen Blockwerk zur registrierbaren Orgel hingewiesen
wurde.4
In Kapitel A wurde auch angesprochen, dass der
Austausch zwischen unterschiedlichen kulturellen
Regionen entscheidenden Anteil an der Herausbildung
derjenigen Prototypen hatte, die uns heute als „nord-
deutsche" oder „mitteldeutsche" Orgel bekannt sind.
Für das Rheinland, aber auch für den Norden
Deutschlands bis in die Weserregion hinein sind im 16.
Jahrhundert die Einflüsse aus den Niederlanden wirk-
sam. Wegen des damals dort herrschenden Calvinismus
brach der Orgelbau förmlich zusammen, und die
Orgelbauer waren gezwungen, in Gegenden abzuwan-
dern, die bessere Einkommensaussichten boten. Zuvor,
in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, war es aber
Hendrik Niehoff (um 1495-1560), der den Orgelbau
durch technische Neuerungen, wie den Bau von
Springladen, und neue klangliche Ideen entscheidend
nach vorne brachte und so schulbildend gewesen ist. Er
gilt als der eigentliche Schöpfer der „Brabanter Orgel".5
Über seine Orgelbauten, zum Beispiel die Orgel in St.
Petri und St. Katharinen in Hamburg (1548-1550) bzw.
die gemeinsam mit Jasper Johannsen (geb. 1514) in St.
Johannis in Lüneburg (1551-1552) gebaute Orgel,
wurde dieser Brabanter Typus auch in unserem Bereich
bekannt und sollte „von ausschlaggebender Bedeutung
für den norddeutschen Orgelstil" sein.6
Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammen-
hang aber eine weitere Orgelbaudynastie, jene der
Siegel. Die Familie Siegel stammte aus Zwolle und orien-
tierte sich wie Niehoff in den norddeutschen Raum.7 So
bauten Cornelis (gest. 1585) und Michael Siegel (gest.
1595) die Orgeln für den Osnabrücker Dom (1545-
1547)8 und für St. Andreas in Hildesheim (1568)’. Die
von den Gebrüdern Siegel 1571 angelegte Werkliste
offenbart dann aber eine Überraschung, denn ihr zu-
folge standen die Siegel nicht nur im Dienste der großen
Stadt- und Domkirchen, sondern waren auch für den
Grafen von Hoya tätig. Zu den Neubauten, die auf diese
Weise entstanden, gehört auch jener für die St. Martin-
Kirche in Nienburg (1560/62). In der zur Zeit nur über
eine Abschrift zugänglichen Werkliste findet sich der
Eintrag: „(...) dem grave van der Hoy tho nijenborch en
werck van ses foet op twalff luden (...)".10 Obwohl der
Kontrakt bisher nicht aufgefunden werden konnte, darf
der Neubau für St. Martin als gesichert gelten. Bemer-
kenswert ist nun, dass im Zuge eines späteren neuer-
lichen Orgelbaus für St. Martin die Siegel-Orgel veräu-
ßert worden ist. Aufgrund der bisher gesicherten
Indizien dürfte sie durch Hermann Kröger in Drakenburg
aufgestellt worden sein. 1842 übernahm schließlich Carl
Wilhelm Meyer mehrere der überkommenen alten Re-
gister in den von ihm ausgeführten Neubau (Abb. 45).11
Ein weiterer Eintrag in der Slegelschen Werkliste lässt
einen Neubau in St. Martin in Hoya oder in der Stiftskir-
che zu Bücken vermuten. Von besonderer Bedeutung ist
daher die in den Neubau der Bückener Orgel (1976,
Abb. 44) übernommene alte Pfeifensubstanz, die auffal-
lende Parallelen zu jener in Drakenburg zeigt.12
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Orgelbau im Kreis Nienburg
„Will man die Orgelgeschichte eines Landes verstehen,
dann muss man auch die unterschiedlichen Vorausset-
zungen für die regionale musikalische Entwicklung
berücksichtigen, will man sich andererseits über die
Musikgeschichte des Landes ein Bild machen, dann
kommt man nicht umhin, auch die Verbreitung und
Verwendung der Orgel zu untersuchen."'
Mit dieser Aussage, die in ihrem ursprünglichen Zusam-
menhang auf ganz Niedersachsen bezogen ist, wird in
seltener Klarheit aufgezeigt, welch weitreichende Be-
deutung die Orgel als geschichtliches und künstlerisches
Zeugnis für das Verständnis der kulturellen Entwicklung
und Identität einer Region hat. Die Mannigfaltigkeit der
Bedingungsfaktoren, mit denen der Orgelbau seit jeher
in andauernder Wechselwirkung steht, kann und soll im
Rahmen des folgenden Abrisses zum Orgelbau im
Landkreis Nienburg nicht dargestellt werden, denn hier
hinein spielen unterschiedlichste territorial- und kirchen-
geschichtliche, liturgie- und musikgeschichtliche sowie
sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte,2 als deren
Spiegelbild die Kulturdenkmale aufzufassen sind. In
jedem Fall ist nicht nur bezogen auf den Landkreis Nien-
burg in vielerlei Hinsicht noch umfassender Forschungs-
bedarf gegeben - insbesondere zum Orgelbau der Re-
naissancezeit und den Einflüssen aus den Niederlanden.
Anfänge und vorbarocke Zeit
Auch in Norddeutschland hat der Bau von Orgeln eine
Geschichte, die bis in hochmittelalterliche Zeit zurück-
reicht. So ist für das Jahr 1259 eine Orgel im Dom zu
Lübeck bezeugt. 1312 ist eine Orgel im Verdener Dom
nachweisbar, zehn Jahre später in St. Wilhadi in Stade.3
Es handelt sich aber um Instrumente, von denen es
keine Überreste mehr gibt. Zu den frühesten erhaltenen
Orgeln überhaupt zählt jene in Rysum, auf die bereits in
Kapitel A als Beispiel für den Übergang vom mittelalter-
lichen Blockwerk zur registrierbaren Orgel hingewiesen
wurde.4
In Kapitel A wurde auch angesprochen, dass der
Austausch zwischen unterschiedlichen kulturellen
Regionen entscheidenden Anteil an der Herausbildung
derjenigen Prototypen hatte, die uns heute als „nord-
deutsche" oder „mitteldeutsche" Orgel bekannt sind.
Für das Rheinland, aber auch für den Norden
Deutschlands bis in die Weserregion hinein sind im 16.
Jahrhundert die Einflüsse aus den Niederlanden wirk-
sam. Wegen des damals dort herrschenden Calvinismus
brach der Orgelbau förmlich zusammen, und die
Orgelbauer waren gezwungen, in Gegenden abzuwan-
dern, die bessere Einkommensaussichten boten. Zuvor,
in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, war es aber
Hendrik Niehoff (um 1495-1560), der den Orgelbau
durch technische Neuerungen, wie den Bau von
Springladen, und neue klangliche Ideen entscheidend
nach vorne brachte und so schulbildend gewesen ist. Er
gilt als der eigentliche Schöpfer der „Brabanter Orgel".5
Über seine Orgelbauten, zum Beispiel die Orgel in St.
Petri und St. Katharinen in Hamburg (1548-1550) bzw.
die gemeinsam mit Jasper Johannsen (geb. 1514) in St.
Johannis in Lüneburg (1551-1552) gebaute Orgel,
wurde dieser Brabanter Typus auch in unserem Bereich
bekannt und sollte „von ausschlaggebender Bedeutung
für den norddeutschen Orgelstil" sein.6
Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammen-
hang aber eine weitere Orgelbaudynastie, jene der
Siegel. Die Familie Siegel stammte aus Zwolle und orien-
tierte sich wie Niehoff in den norddeutschen Raum.7 So
bauten Cornelis (gest. 1585) und Michael Siegel (gest.
1595) die Orgeln für den Osnabrücker Dom (1545-
1547)8 und für St. Andreas in Hildesheim (1568)’. Die
von den Gebrüdern Siegel 1571 angelegte Werkliste
offenbart dann aber eine Überraschung, denn ihr zu-
folge standen die Siegel nicht nur im Dienste der großen
Stadt- und Domkirchen, sondern waren auch für den
Grafen von Hoya tätig. Zu den Neubauten, die auf diese
Weise entstanden, gehört auch jener für die St. Martin-
Kirche in Nienburg (1560/62). In der zur Zeit nur über
eine Abschrift zugänglichen Werkliste findet sich der
Eintrag: „(...) dem grave van der Hoy tho nijenborch en
werck van ses foet op twalff luden (...)".10 Obwohl der
Kontrakt bisher nicht aufgefunden werden konnte, darf
der Neubau für St. Martin als gesichert gelten. Bemer-
kenswert ist nun, dass im Zuge eines späteren neuer-
lichen Orgelbaus für St. Martin die Siegel-Orgel veräu-
ßert worden ist. Aufgrund der bisher gesicherten
Indizien dürfte sie durch Hermann Kröger in Drakenburg
aufgestellt worden sein. 1842 übernahm schließlich Carl
Wilhelm Meyer mehrere der überkommenen alten Re-
gister in den von ihm ausgeführten Neubau (Abb. 45).11
Ein weiterer Eintrag in der Slegelschen Werkliste lässt
einen Neubau in St. Martin in Hoya oder in der Stiftskir-
che zu Bücken vermuten. Von besonderer Bedeutung ist
daher die in den Neubau der Bückener Orgel (1976,
Abb. 44) übernommene alte Pfeifensubstanz, die auffal-
lende Parallelen zu jener in Drakenburg zeigt.12
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