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Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Gewölbe- und Wandmalereien im Gebiet des heutigen Niedersachsen
meinden und Denkmalpfleger. Während für die Kir-
chengemeinden aus liturgischen und repräsentativen
Gründen in erster Linie die Wahrnehmbarkeit des
Bildprogramms und eine Vollständigkeit in Form und
Farbe relevant erschien, ging es den Denkmalpflegern
zu Anfang des 20. Jahrhunderts vornehmlich um die
Erhaltung des geschichtlichen und urkundlichen
Wertes der Ausmalungen. Beide Parteien waren sich
allerdings überwiegend einig über die Erhaltung der
Malereien.
Trotz der Sensibilisierung der Kirchengemeinden und
Laien für die Aufgaben der Denkmalpflege ging ihr
Ansatz auch in den 1930er Jahren noch über die reine
Konservierung der Originalsubstanz hinaus und war
gegen eine Präsentation des Fragments gerichtet. In
der Praxis zeigten sich diese unterschiedlichen Auffas-
sungen vor allem dadurch, dass nur in Räumen, die
nicht (mehr) für den liturgischen Gebrauch genutzt
wurden, auf Ergänzungen und Übermalungen ver-
zichtet wurde, da hier die Zielsetzungen der Kirchen-
gemeinden im Hintergrund standen. In allen anderen
Fällen waren Kompromisse notwendig. Die Qualität
ihrer Umsetzung beruhte in erster Linie auf Kompe-
tenz und Überzeugungsfähigkeit der Denkmalpfleger
und nicht zuletzt auch auf Kenntnisstand und Sorgfalt
der Kirchenmaler und Restauratoren. Für Restaurie-
rungen gab es keine erkennbaren Standards. Für jede
Wandmalerei musste individuell entschieden werden,
auch wenn grundsätzliche Überlegungen, angepasst
an die jeweils gültige denkmalpflegerische Auffas-
sung zur Anwendung kamen. Diese Vorgaben bein-
halteten vor allem den Verzicht auf Übermalungen
und Ergänzungen von figürlichen Darstellungen, aber
eine Akzeptanz von Retuschen und Ergänzungen von
rekonstruierbaren dekorativen Bereichen. Das Fehlen
verbindlicher Benennungen für die verschiedenen
Methoden zur malerischen Bearbeitung führte dazu,
dass die Vorgaben für Kirchengemeinden und Restau-
ratoren auslegungsfähig waren. In der Praxis kam es
zu unterschiedlichen Auslegungen des Begriffs „Er-
gänzung", die von monochromen Lasuren bis hin zu
rekonstruierenden Übermalungen reichen konnten.
War der Erhaltungszustand einer Malerei in seltenen
Fällen derart, dass die Darstellung eindeutig lesbar
und die Farbigkeit kaum reduziert waren, konnte die
malerische Ergänzung unter Zustimmung aller Betei-
ligten auf die Retusche von Fehlstellen beschränkt
werden. Häufiger lagen Darstellungen nur fragmenta-
risch vor, einzelne Szenen waren durch Ausbrüche
oder spätere Veränderungen im Mauerwerk völlig zer-
stört oder der maltechnische Aufbau war stark redu-
ziert. Hier war die Notwendigkeit von Ergänzungen
und farbigen Einstimmungen zumindest für die
Kirchengemeinden gegeben. Deren Ausmaß, das
heißt, ob es zu Retuschen, farbigen Lasuren, Nach-
ziehen von Konturen oder Rekonstruktionen von feh-
lenden Bereichen kam, war abhängig von den indivi-
duellen Entscheidungen der Beteiligten. Das Gelingen
einer Restaurierung hing demnach stark von der
denkmalpflegerischen Auffassung Einzelner bzw. von
der Betreuung und der Kontrolle durch die Denkmal-
pfleger ab.
Die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte
von Denkmalpflege und Restaurierung verdeutlicht
die Aktualität der historischen Maßnahmen in der
heutigen Restaurierungspraxis. Die historischen
Restaurierungen sind nicht abgeschlossene Abschnit-
te der Geschichte, sondern sie prägen heute maßgeb-
lich das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Gewöl-
be- und Wandmalereien. Bei der Frage nach dem heu-
tigen Umgang mit den historischen Restaurierungser-
gebnissen zeigt sich, dass auch hier Zeitgeschmack
und Wertvorstellungen eine entscheidende Rolle spie-
len. Sollen die Spuren der historischen Bearbeitungen
grundsätzlich erhalten werden, weil sie Teil der Ge-
schichte des Kunstwerks sind? Verlagert sich damit
der historische Wert des Denkmals vom mittelalterli-
chen Bestand auf die historischen Restaurierungen?
Dürfen verfälschende oder entstellende Übermalun-
gen und Überformungen entfernt werden, weil sie
den künstlerischen Wert des Denkmals beeinträchti-
gen? Eindeutig beantwortet werden können die
Fragen wohl nur bei konservatorischen Problem-
stellungen. Wenn durch Restaurierungsmaterialien
Schäden verursacht werden, wie beispielsweise
Selbststrappierung aufgrund überhöhter Oberflä-
chenspannung von Fixierungsmitteln oder Verhinde-
rung des Feuchteaustauschs durch wasserdampfun-
durchlässige Überzüge, ist unter Umständen die
Entfernung dieser Materialien notwendig.
In allen übrigen Fällen müssen sämtliche Kriterien, die
für oder gegen die Entfernung der historischen Res-
taurierungsmaterialien sprechen, sorgfältig abgewo-
gen werden.
Nicht nur in Bezug auf die historischen Restaurie-
rungen, sondern bei denkmalpflegerischen Entschei-
dungen allgemein sind auch die historischen Debat-
ten um denkmalpflegerische Auffassungen und
Richtlinien heute noch aktuell. Die in der vorliegenden
Arbeit herausgearbeiteten unterschiedlichen Vorstel-
lungen der Denkmalpfleger und Kirchengemeinden
vom Ergebnis einer Restaurierung besitzen nach wie
vor Gültigkeit. Das Gelingen einer Restaurierung ist
vom denkmalpflegerischen Verständnis, vom Zeitge-
schmack sowie von Kompetenz und Engagement aller
Beteiligten abhängig. Dies gilt besonders für Restau-
ratorinnen und Restauratoren, aber auch für die
Verantwortlichen der Denkmalpflege. Dass Laien
einem anderen Werteverständnis unterliegen als
Fachleute, ist weder ungewöhnlich noch unverständ-
lich. Hier zeigt sich die Notwendigkeit von Aufklärung
und Sensibilisierung der Menschen für die Belange
der Denkmalpflege, die auch zu Anfang des 21. Jahr-
hunderts nichts von ihrer Aktualität verloren hat.
Restaurierungsgeschichte mittelalterlicher Gewölbe- und Wandmalereien im Gebiet des heutigen Niedersachsen
meinden und Denkmalpfleger. Während für die Kir-
chengemeinden aus liturgischen und repräsentativen
Gründen in erster Linie die Wahrnehmbarkeit des
Bildprogramms und eine Vollständigkeit in Form und
Farbe relevant erschien, ging es den Denkmalpflegern
zu Anfang des 20. Jahrhunderts vornehmlich um die
Erhaltung des geschichtlichen und urkundlichen
Wertes der Ausmalungen. Beide Parteien waren sich
allerdings überwiegend einig über die Erhaltung der
Malereien.
Trotz der Sensibilisierung der Kirchengemeinden und
Laien für die Aufgaben der Denkmalpflege ging ihr
Ansatz auch in den 1930er Jahren noch über die reine
Konservierung der Originalsubstanz hinaus und war
gegen eine Präsentation des Fragments gerichtet. In
der Praxis zeigten sich diese unterschiedlichen Auffas-
sungen vor allem dadurch, dass nur in Räumen, die
nicht (mehr) für den liturgischen Gebrauch genutzt
wurden, auf Ergänzungen und Übermalungen ver-
zichtet wurde, da hier die Zielsetzungen der Kirchen-
gemeinden im Hintergrund standen. In allen anderen
Fällen waren Kompromisse notwendig. Die Qualität
ihrer Umsetzung beruhte in erster Linie auf Kompe-
tenz und Überzeugungsfähigkeit der Denkmalpfleger
und nicht zuletzt auch auf Kenntnisstand und Sorgfalt
der Kirchenmaler und Restauratoren. Für Restaurie-
rungen gab es keine erkennbaren Standards. Für jede
Wandmalerei musste individuell entschieden werden,
auch wenn grundsätzliche Überlegungen, angepasst
an die jeweils gültige denkmalpflegerische Auffas-
sung zur Anwendung kamen. Diese Vorgaben bein-
halteten vor allem den Verzicht auf Übermalungen
und Ergänzungen von figürlichen Darstellungen, aber
eine Akzeptanz von Retuschen und Ergänzungen von
rekonstruierbaren dekorativen Bereichen. Das Fehlen
verbindlicher Benennungen für die verschiedenen
Methoden zur malerischen Bearbeitung führte dazu,
dass die Vorgaben für Kirchengemeinden und Restau-
ratoren auslegungsfähig waren. In der Praxis kam es
zu unterschiedlichen Auslegungen des Begriffs „Er-
gänzung", die von monochromen Lasuren bis hin zu
rekonstruierenden Übermalungen reichen konnten.
War der Erhaltungszustand einer Malerei in seltenen
Fällen derart, dass die Darstellung eindeutig lesbar
und die Farbigkeit kaum reduziert waren, konnte die
malerische Ergänzung unter Zustimmung aller Betei-
ligten auf die Retusche von Fehlstellen beschränkt
werden. Häufiger lagen Darstellungen nur fragmenta-
risch vor, einzelne Szenen waren durch Ausbrüche
oder spätere Veränderungen im Mauerwerk völlig zer-
stört oder der maltechnische Aufbau war stark redu-
ziert. Hier war die Notwendigkeit von Ergänzungen
und farbigen Einstimmungen zumindest für die
Kirchengemeinden gegeben. Deren Ausmaß, das
heißt, ob es zu Retuschen, farbigen Lasuren, Nach-
ziehen von Konturen oder Rekonstruktionen von feh-
lenden Bereichen kam, war abhängig von den indivi-
duellen Entscheidungen der Beteiligten. Das Gelingen
einer Restaurierung hing demnach stark von der
denkmalpflegerischen Auffassung Einzelner bzw. von
der Betreuung und der Kontrolle durch die Denkmal-
pfleger ab.
Die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte
von Denkmalpflege und Restaurierung verdeutlicht
die Aktualität der historischen Maßnahmen in der
heutigen Restaurierungspraxis. Die historischen
Restaurierungen sind nicht abgeschlossene Abschnit-
te der Geschichte, sondern sie prägen heute maßgeb-
lich das Erscheinungsbild der mittelalterlichen Gewöl-
be- und Wandmalereien. Bei der Frage nach dem heu-
tigen Umgang mit den historischen Restaurierungser-
gebnissen zeigt sich, dass auch hier Zeitgeschmack
und Wertvorstellungen eine entscheidende Rolle spie-
len. Sollen die Spuren der historischen Bearbeitungen
grundsätzlich erhalten werden, weil sie Teil der Ge-
schichte des Kunstwerks sind? Verlagert sich damit
der historische Wert des Denkmals vom mittelalterli-
chen Bestand auf die historischen Restaurierungen?
Dürfen verfälschende oder entstellende Übermalun-
gen und Überformungen entfernt werden, weil sie
den künstlerischen Wert des Denkmals beeinträchti-
gen? Eindeutig beantwortet werden können die
Fragen wohl nur bei konservatorischen Problem-
stellungen. Wenn durch Restaurierungsmaterialien
Schäden verursacht werden, wie beispielsweise
Selbststrappierung aufgrund überhöhter Oberflä-
chenspannung von Fixierungsmitteln oder Verhinde-
rung des Feuchteaustauschs durch wasserdampfun-
durchlässige Überzüge, ist unter Umständen die
Entfernung dieser Materialien notwendig.
In allen übrigen Fällen müssen sämtliche Kriterien, die
für oder gegen die Entfernung der historischen Res-
taurierungsmaterialien sprechen, sorgfältig abgewo-
gen werden.
Nicht nur in Bezug auf die historischen Restaurie-
rungen, sondern bei denkmalpflegerischen Entschei-
dungen allgemein sind auch die historischen Debat-
ten um denkmalpflegerische Auffassungen und
Richtlinien heute noch aktuell. Die in der vorliegenden
Arbeit herausgearbeiteten unterschiedlichen Vorstel-
lungen der Denkmalpfleger und Kirchengemeinden
vom Ergebnis einer Restaurierung besitzen nach wie
vor Gültigkeit. Das Gelingen einer Restaurierung ist
vom denkmalpflegerischen Verständnis, vom Zeitge-
schmack sowie von Kompetenz und Engagement aller
Beteiligten abhängig. Dies gilt besonders für Restau-
ratorinnen und Restauratoren, aber auch für die
Verantwortlichen der Denkmalpflege. Dass Laien
einem anderen Werteverständnis unterliegen als
Fachleute, ist weder ungewöhnlich noch unverständ-
lich. Hier zeigt sich die Notwendigkeit von Aufklärung
und Sensibilisierung der Menschen für die Belange
der Denkmalpflege, die auch zu Anfang des 21. Jahr-
hunderts nichts von ihrer Aktualität verloren hat.