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Stegmann, Carl von; Geymüller, Heinrich von; Stegmann, Carl von [Editor]; Geymüller, Heinrich von [Editor]
Die Architektur der Renaissance in Toscana: dargestellt in den hervorragendsten Kirchen, Palästen, Villen und Monumenten nach den Aufnahmen der Gesellschaft San Giorgio in Florenz; nach Meistern und Gegenständen geordnet (Band 7): Raffaelo, Antonio da Sangallo der Jüngere, Baccio d'Agnolo, Rovezzano, Giuliano di Baccio d'Agnolo, Bandinelli, Peruzzi, Vignola, Folfi — München: Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G., 1908

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.55573#0061
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MICHELAGNOLO BUONARROTI

4) Bizarrie der Formengruppierung. So, stellen-
weise an der Decke der Laurenziana, die Zusammenstellung ver-
schiedener Ornamentmotive mit der Absicht nebenbei, mittels
ihrer Linien und Massen, grinsende Masken erraten zu lassen.
5) Verachtung der Formenlogik klassischer
traditioneller Formen. Gänzliche Nichtachtung des logischen
Sinnes der klassischen Formen zeigt die Verwendung von Segment-
giebeln an beiden Enden der Rahmen in den Seitenfeldern der
Decke der Laurenziana (Bl. 9). In der Gliederung der Porta Pia
ist die Grenze zwischen tragenden und getragenen Teilen, ein
Grundprinzip der auf klassischen Ordnungen beruhenden Kompo-
sitionen, ausgetilgt. In der oberen Hälfte fliessen beide in und
durcheinander1). Es ist ein Hohn auf die geometrischen Wahr-
heiten und die Logik, die den Formen und Linien, den Gliedern
und Profilen der klassischen Ordnungen innewohnen und dauernden
Wert verleihen. Michelangelo hätte sich noch mehr von ihnen
freimachen oder aber deren Ehre und Wahrheit mehr achten und
neubeleben sollen.

VIII.

GENESIS
SEINES ARCHITEKTONISCHEN STILS.

SEINE CHARAKTERE UND ZIELE,
EL, WIDERSPRÜCHE UND MÄNGEL.
ATÜRLICHE BEGABUNG Es kann nicht
genug auf die ganz ausserordentliche natürliche Be-
gabung Michelangelos hingewiesen werden als Grund-
pfeiler und Haupttriebkraft seiner Künstlergrösse. Seine Charakter-
eigenschaften , ideale Geistesrichtung, Seelenadel und Herzens-
grösse, Selbstvertrauen, unbändiger Drang nach Freiheit und
Unabhängigkeit kamen hinzu.
Michelangelo schildert selber, wie von der zartesten Kind-
heit an die Liebe zum Schönen sein Herz erfüllte: „Als treues
Vorbild für meinen Beruf wurde mir, bei der Geburt, die
Schönheit gegeben, die mir in beiden Künsten Leuchte und
Spiegel ist .... Dieses Vorbild allein trägt das Auge in
jene Höhe, die zu malen und skulpieren (meisseln) ich mich
vorbereite“2).
Der Liebe (oder Amor?) lässt er sagen: „Ich selbst bin
jene, die in deinen ersten Jahren deine schwachen Augen auf die
Schönheit wandte, die von der Erde zum Himmel führt. Diese
Liebe schenkte mir ein gesundes Auge“ — und „Meine Augen
waren giererfüllt und lechzend nach allem Wunderbaren: „Gli
occhi mia, ghiotti d’ogni maraviglia“ — durch sie dringt sofort

RATS


jede Schönheit ins Herz.“ Ausgezeichnetes Formengedächtnis,
Interesse und Begabung für jede „Technik“, rastloser Fleiss und
Energie vervollständigen den Boden, auf welchen befruchtend die
äusseren Verhältnisse und Einwirkungen fielen, wie ein Lichtstrahl
nach dem andern; und es waren Grossmächte ersten Ranges,
die nun an seiner Entwickelung teilnehmen.
1) Die Stellung als ein Sohn des Hauses, im geistigen
„milieu“ des Palazzo Medici, des intellektuellsten Kreises von
Italien. 2) Der unauslöschliche Eindruck der Predigten Savona-
rolas und dessen christlicher Ästhetik. 3) Der Geist von Florenz.
4) Der Geist von Rom. 5 und 6) Die Freundschaft Julius’ II.
und die Berührung mit seinem Bramante.
Poliziano, die Akademiker, die Statuen des Gartens von
S. Marco, offenbaren ihm die platonischen Ideale und die antike
Schönheit. Savonarola giebt ihm hohen Ernst und den Geist
der Bibel und den lebendigen christlichen Glauben, ohne welche
er nie die geistige Erhabenheit und die innere Welt seines
Moses und der Propheten zu erfassen und darzustellen ver-
mocht hätte.
Florenz gab ihm das „Leben“, das im Naturstudium liegt,
Dante und den Drang nach allem Grossen und Neuen. Rom
gab ihm das „Leben“, das im Festhalten des Ewig-Wahren
und im Ewig-Schönen der Antike wohnt.
Und nun folgt die letzte der Grossmächte: die Gelegen-
heit gross zu wirken, die Freundschaft mit Julius II. und die Be-
rührung mit Bramante und der Eindruck seiner Werke. Der
Papst war der grossartigste Bauherr und Mäcen, Bramante der
grösste „Surintendant des Beaux-Arts“ der Renaissance. Dem
ersten verdanken wir den Moses; dem zweiten und dem Einflüsse
seiner Werke die Decke der Sistina und . . . die Kuppel von
Sankt Peter.
Der berühmte Ausspruch Michelangelos, dass was Raffael
von der Kunst hatte, hätte er von ihm, war im Sinne, den er
diesen Worten beilegte, nicht unberechtigt. In ähnlichem Sinne
sprechend kann man sagen, dass alles was Michelangelo von
der Architektur hatte, hatte er von Bramante! Der Eindruck
seiner Entwürfe und Modelle für Sankt Peter auf Michelangelo
war mindestens ebenso mächtig, als der Anblick der Sistina
auf Raffael.
Der Bund dieser Grossmächte im Verein mit der natürlichen
Begabung eines Titanen, hat Michelangelo in Höhen geführt, die
keinem anderen vor noch nach ihm zu erreichen gegeben ward.

Wie lernte Michelangelo die Archi-
tektur? ©x® Obgleich wir keine direkten Nachrichten über
diese Frage besitzen, ist es möglich, wichtige Elemente derselben
zu nennen, die sich auf indirektem Wege feststellen lassen.

1) Über dem Säulenhals der breiten kannelierten Pilaster beginnt das
Kapitäl seine unteren Glieder zu bilden, verschwindet aber dann wie unter
Quasten hinter den Tropfen eines nicht kannelierten Triglyphs, der an sich
allein das Gebälk bildet, dessen ganze Höhe einnimmt und dann die untere
Hälfte des verkröpften Gesimses trägt, die obere Hälfte von der unteren
trennend und krümmend. Die obere Hälfte wird als ein Stück Segmentgiebel
gegen die untere Fläche des geradlinigen Spitzgiebels emporgedrückt. Dies Ge-
bilde, halb Kapitäl, halb Triglyphentropfen, zu dem noch ein Stück Konsole
sich gesellt und welches das Tragende und die getragenen Partien vereinigen
soll, gehört zum unschönsten, widerwärtigsten, geistlosesten Machwerk, das die
Architektur je hervorgebracht hat.

2) Siehe: Guasti, C., Le Rime di Michelangelo Buonarroti, Firenze 1863:
Per fido esemplo alla mia vocazione
Nel parto mi fa data la bellezza,
Che d’ambo l’arti m’e lucerna e specchio. (Madrigale VII.)
. . . Amor nel departir l’alma da Dio
Me fe’ san occhio, e te luc ’e splendore. (Sonett 28.)
. . . Passa per gli occhi al core in un momento
Qualunque obietto di beltä. (Sonett 57.)
. . . I’ son colui ehe ne’ prim ’anni tuoi
Gli occhi tuo’ infermi volsi alla beltate
Che dalla terra al ciel vivo conduce. (Sonett 79.)

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