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Fundschau 1952—1953: Römische Zeit
den mittelgroßen oder kleineren Städten, die Ursprünge ihrer Heimatstadt bis in die
römische Zeit zurückverlegen zu wollen, auch wenn nicht der geringste Anhaltspunkt
dafür vorhanden ist; oder aber, wenn die betreffende Stadt tatsächlich bis in römische
Zeit zurückreicht, das Bestreben, die geschichtliche Bedeutung der römischen Vorläuferin
reichlich zu übertreiben oder zumindest Dinge von ihr wissen zu wollen, die beim der-
zeitigen Stand unseres Wissens einfach nicht wißbar sind. Dieses Bestreben geht zurück
auf die Renaissance mit ihrer hohen und mitunter falsch angebrachten Bewertung alles
Antiken. Es läßt sich gleichermaßen in Stadtchroniken wie in Genealogien angesehener
Familien aller Art (z. B. Fürstenfamilien, Gelehrtenfamilien) beobachten. Für die uns
hier einzig interessierende Stadtgeschichte wurden dabei mit Vorliebe die damals ent-
deckten oder wiederentdeckten antiken geographischen Schriften ausgebeutet, z. B. die
Straßenkarte der Tabula Peutingeriana, die Itinerarien (Straßenverzeichnisse), die „Geo-
graphie“ des Claudius Ptolemaeus usw. Humanistisch gebildete Stadtchronisten sahen
sich besonders durch diese geographischen Quellen veranlaßt, ihrer Heimatstadt oder
der Stadt, in deren Diensten sie standen, ohne viel Kritik einen der in den genannten
und ähnlichen Werken überlieferten lateinischen Namen beizulegen. Solche Zuschrei-
bungen machten bald Mode, und in Universitätsmatrikeln, Kirchenbucheintragungen
und ähnlichen Urkunden etwa von der Mitte des 16. Jhdts. an (mitunter schon früher)
bis um 1800, die Ortsangaben enthalten (z. B. die Angabe des Geburtsortes), wimmelt
es förmlich von solchen angeeigneten lateinischen Ortsnamen. Irgendwelchen geschicht-
lichen Quellenwert für die Entscheidung der Frage nach der Berechtigung dieser An-
eignung haben derartige Eintragungen samt und sonders nicht.
Um aus der Zahl unberechtigter oder übertriebener Rückgriffe auf antike Quellen nur
diejenigen Fälle anzuführen, mit denen der Berichterstatter in den letzten Jahren in der
einen oder anderen Form befaßt worden ist: Die Städtchen Kaiserstuhl a. Rh. und
Zurzach a. Rh. (beide Kanton Aargau) haben nichts mit Forum Tiberii zu tun, auch
wenn bischöflich Konstanzische Vögte in ihren Schriftsätzen gerne beiden Orten diesen
Namen beilegten. (Von dieser Quelle ausgehend, hat ein badischer Freund der Früh-
geschichte die Gleichsetzung brieflich wieder zur Diskussion gestellt; von Schweizer Seite
ist in diesem Sinne m. W. nichts erfolgt.)
Baden-Baden war niemals die „Residenz“ des Kaisers Caracalla. Der Kaiser hat ledig-
lich vielleicht nach einer nicht ganz unbegründeten, aber keineswegs bewiesenen
Vermutung im Spätsommer 213 n. Chr. kürzere Zeit die heißen Quellen Badens ge-
braucht; ferner hat er vielleicht, wenn eine sehr verstümmelt auf uns gekommene
Inschrift richtig wiederhergestellt worden ist, seine kaiserliche Freigebigkeit der Ge-
meinde zugute kommen lassen, indem er die Bäder (oder einen Teil der Bäder?) er-
weitern und prachtvoll erneuern ließ. Aber selbst wenn die Inschrift richtig wiederher-
gestellt worden ist, ist damit der Aufenthalt Caracallas in Baden nicht im mindesten
gesichert; der Kaiser kann, nach der unzureichenden Überlieferung zu urteilen, ebenso
gut die Quellen von Aachen gebraucht haben. Auch von einer „Ehrenbürgerschaft“, die
Caracalla von Seiten des Badener Gemeinderates empfangen haben soll, spricht man
lieber nicht, da es diesen Begriff im 3. Jhdt. n. Chr. im Verhältnis zwischen dem römi-
schen Kaiser und einer gewöhnlichen provinzialen Gemeinde (civitas) nicht gibt.
Übrigens: wozu eigentlich diese Vorliebe für Caracalla, der zwar ein tüchtiger Soldat
Fundschau 1952—1953: Römische Zeit
den mittelgroßen oder kleineren Städten, die Ursprünge ihrer Heimatstadt bis in die
römische Zeit zurückverlegen zu wollen, auch wenn nicht der geringste Anhaltspunkt
dafür vorhanden ist; oder aber, wenn die betreffende Stadt tatsächlich bis in römische
Zeit zurückreicht, das Bestreben, die geschichtliche Bedeutung der römischen Vorläuferin
reichlich zu übertreiben oder zumindest Dinge von ihr wissen zu wollen, die beim der-
zeitigen Stand unseres Wissens einfach nicht wißbar sind. Dieses Bestreben geht zurück
auf die Renaissance mit ihrer hohen und mitunter falsch angebrachten Bewertung alles
Antiken. Es läßt sich gleichermaßen in Stadtchroniken wie in Genealogien angesehener
Familien aller Art (z. B. Fürstenfamilien, Gelehrtenfamilien) beobachten. Für die uns
hier einzig interessierende Stadtgeschichte wurden dabei mit Vorliebe die damals ent-
deckten oder wiederentdeckten antiken geographischen Schriften ausgebeutet, z. B. die
Straßenkarte der Tabula Peutingeriana, die Itinerarien (Straßenverzeichnisse), die „Geo-
graphie“ des Claudius Ptolemaeus usw. Humanistisch gebildete Stadtchronisten sahen
sich besonders durch diese geographischen Quellen veranlaßt, ihrer Heimatstadt oder
der Stadt, in deren Diensten sie standen, ohne viel Kritik einen der in den genannten
und ähnlichen Werken überlieferten lateinischen Namen beizulegen. Solche Zuschrei-
bungen machten bald Mode, und in Universitätsmatrikeln, Kirchenbucheintragungen
und ähnlichen Urkunden etwa von der Mitte des 16. Jhdts. an (mitunter schon früher)
bis um 1800, die Ortsangaben enthalten (z. B. die Angabe des Geburtsortes), wimmelt
es förmlich von solchen angeeigneten lateinischen Ortsnamen. Irgendwelchen geschicht-
lichen Quellenwert für die Entscheidung der Frage nach der Berechtigung dieser An-
eignung haben derartige Eintragungen samt und sonders nicht.
Um aus der Zahl unberechtigter oder übertriebener Rückgriffe auf antike Quellen nur
diejenigen Fälle anzuführen, mit denen der Berichterstatter in den letzten Jahren in der
einen oder anderen Form befaßt worden ist: Die Städtchen Kaiserstuhl a. Rh. und
Zurzach a. Rh. (beide Kanton Aargau) haben nichts mit Forum Tiberii zu tun, auch
wenn bischöflich Konstanzische Vögte in ihren Schriftsätzen gerne beiden Orten diesen
Namen beilegten. (Von dieser Quelle ausgehend, hat ein badischer Freund der Früh-
geschichte die Gleichsetzung brieflich wieder zur Diskussion gestellt; von Schweizer Seite
ist in diesem Sinne m. W. nichts erfolgt.)
Baden-Baden war niemals die „Residenz“ des Kaisers Caracalla. Der Kaiser hat ledig-
lich vielleicht nach einer nicht ganz unbegründeten, aber keineswegs bewiesenen
Vermutung im Spätsommer 213 n. Chr. kürzere Zeit die heißen Quellen Badens ge-
braucht; ferner hat er vielleicht, wenn eine sehr verstümmelt auf uns gekommene
Inschrift richtig wiederhergestellt worden ist, seine kaiserliche Freigebigkeit der Ge-
meinde zugute kommen lassen, indem er die Bäder (oder einen Teil der Bäder?) er-
weitern und prachtvoll erneuern ließ. Aber selbst wenn die Inschrift richtig wiederher-
gestellt worden ist, ist damit der Aufenthalt Caracallas in Baden nicht im mindesten
gesichert; der Kaiser kann, nach der unzureichenden Überlieferung zu urteilen, ebenso
gut die Quellen von Aachen gebraucht haben. Auch von einer „Ehrenbürgerschaft“, die
Caracalla von Seiten des Badener Gemeinderates empfangen haben soll, spricht man
lieber nicht, da es diesen Begriff im 3. Jhdt. n. Chr. im Verhältnis zwischen dem römi-
schen Kaiser und einer gewöhnlichen provinzialen Gemeinde (civitas) nicht gibt.
Übrigens: wozu eigentlich diese Vorliebe für Caracalla, der zwar ein tüchtiger Soldat