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Grundlagen der Verwandtschaftsanalyse an Skelettmaterial
bestimmten archäologischen Befunden (z.B. gleichzeitige
Grablege bei Mehrfachbestattungen) ist es möglich, genaue
Familienverhältnisse zu rekonstruieren. So ist es z.B.
statthaft, in der Niederlegung von mehreren Kindern
und 2 Erwachsenen in einem Gemeinschaftsgrab aus den
Hinweisen auf verwandtschaftliche Beziehungen direkt
auf das Vorliegen einer echten Familienbestattung aus
Eltern und Kindern zu schliessen (vgl. Alt, Vach & Pichler
1992; Alt et al. 1996a, 1996b; Wahl & Höhn 1988).
Für die Arbeit an Skelettmaterial ist weiterhin zu beachten,
dass die komplexen Vorgänge bei Polygenie (für
epigenetische Merkmale und Zahnmerkmale relevant),
bei denen eine «unbestimmbare Anzahl von Genen in
unterschiedlicher Weise auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist»
(Witkowski & Hermann 1989), es unmöglich machen,
die Gen-Phän-Beziehungen zu erfassen. Direkte und erst
recht weiter entfernte Verwandte sind in einer Anzahl
von Merkmalen einander unähnlich, was durch die jeweils
neue Zusammensetzung der beteiligten Gene bei
multifaktoriell gesteuerten Merkmalen bedingt ist. Dies
führt innerhalb betroffener Sippen zu phänotypischen
Abweichungen (intrafamiliärer Variabilität), wobei die
Merkmalsausbildung, also die Manifestationsstärke der
beteiligten Gene (Expressivität) und die Manifestations-
häufigkeit (Penetranz) mitunter stark schwanken. Da in
einer Bevölkerung nur eine begrenzte Anzahl von
Ausprägungsvarianten eines Merkmals vorliegen, kommt
es ausserdem bei Betrachtung einer Vielzahl von
Merkmalen immer auch zu zufälligen, nicht auf Ver-
wandtschaft basierenden Übereinstimmungen.
Die Fortschritte auf dem Gebiet der molekularbiolo-
gischen Forschung ermöglichen seit wenigen Jahren
bestimmte anthropologische Basisdaten durch die Unter-
suchung von „alter DNA“ (aDNA) mittels PCR-Methoden
zu gewinnen (Herrmann & Hummel 1993). Im Hinblick
auf die Rekonstruktion früherer Bevölkerungen inte-
ressieren dabei vor allem Informationen über individuelle
genetische Eigenschaften. Hier stehen für den Bereich
der prähistorischen Anthropologie das Geschlecht sowie
die Verwandtschaftsgrade zwischen Einzelindividuen und
innerhalb von Subgruppen einer Bevölkerung im Vorder-
grund. Entsprechende Bestimmungen erfolgen an chromo-
somaler DNA. Die Diagnose des Geschlechts mittels
aDNA Analyse kann inzwischen routinemässig durch-
geführt werden. Damit stehen erstmals absolut zuverlässige
Daten über das Geschlecht zur Verfügung, sofern im Labor
mit der nötigen Sorgfalt (z.B. Vermeidung und Kontrolle
von Kontaminationen) gearbeitet wird (Hummel 1992;
Lassen et al. 1996). Ungleich schwieriger ist die
Feststellung von verwandtschaftlichen Beziehungen
zwischen Skelettindividuen oder von Subgruppen einer
Population. Hier ist man - wie bei der morphologischen
Ähnlichkeitsanalyse - in jedem Fall auf archäologische
Zusatzinformationen angewiesen (Bramanti et al. 2000;
Schultes et al. 2000; Zierdt 1995). Infolge fehlender
Individuen bzw. aufgrund schlechter Erhaltungs-
bedingungen von Skelettmaterial (Burger 1997) können
auch bei aDNA Analysen oftmals nur Teile einer Lokal-
population untersucht werden, wobei allerdings - im
Unterschied zur morphologischen Ähnlichkeitsanalyse -
gegebenenfalls auch die Ermittlung direkter Verwandt-
schaftsverhältnisse möglich ist. Wegen des hohen tech-
nischen und finanziellen Aufwandes von aDNA-Unter-
suchungen können diese derzeit in der Anwendung auf
Gräberfelder oder sonstige grössere Bestattungskomplexe
(z.B. Kollektivgräber) noch keine Alternative zu der hier
angewandten Verwandtschaftsanalyse darstellen. Für die
Untersuchung von Mehrfachbestattungen, herausragenden
Fundmaterialien und für besondere Fragestellungen sollte
die aDNA-Analyse allerdings bereits heute Priorität haben.
2.2 Grundsätzliche Überlegungen zur Rekon-
struktion genetischer Verwandtschaft
2.2.1 Methodische Grundlagen der anthropo-
logischen Verwandtschaftsanalyse
Prähistorische und historische Bestattungsgemeinschaften
(Kollektivgräber/Gräberfelder etc.) repräsentieren in der
Regel Mitglieder lokaler Bevölkerungen. Diese Sozial-
gemeinschaften enthalten Untergruppen biologisch bzw.
genetisch relativ eng zusammengehöriger Individuen.
Die methodische Grundlage der Rekonstruktion gene-
tischer Verwandtschaft innerhalb einer solchen Gemein-
schaft ist die Erwartung, dass biologisch verwandte Mit-
glieder einer Familie bzw. Subgruppe der Gemeinschaft
in einer Reihe familientypischer phänotypischer Charak-
teristika übereinstimmen oder sich zumindest sehr ähnlich
sind. Bei den Charakteristika sind sowohl quantitative
als auch qualitative Variablen denkbar, es werden hier
jedoch nur diskret auftretende Merkmale benutzt, so dass
stets das Vorliegen oder Fehlen eines Merkmals die
entscheidende Information bedeutet. Nähere Ausfüh-
rungen zur Auswahl und Definition geeigneter Merkmale
für eine solche Analyse finden sich in Kapitel 2.3.
In einer Verwandtschaftsanalyse müssen mit Hilfe
Grundlagen der Verwandtschaftsanalyse an Skelettmaterial
bestimmten archäologischen Befunden (z.B. gleichzeitige
Grablege bei Mehrfachbestattungen) ist es möglich, genaue
Familienverhältnisse zu rekonstruieren. So ist es z.B.
statthaft, in der Niederlegung von mehreren Kindern
und 2 Erwachsenen in einem Gemeinschaftsgrab aus den
Hinweisen auf verwandtschaftliche Beziehungen direkt
auf das Vorliegen einer echten Familienbestattung aus
Eltern und Kindern zu schliessen (vgl. Alt, Vach & Pichler
1992; Alt et al. 1996a, 1996b; Wahl & Höhn 1988).
Für die Arbeit an Skelettmaterial ist weiterhin zu beachten,
dass die komplexen Vorgänge bei Polygenie (für
epigenetische Merkmale und Zahnmerkmale relevant),
bei denen eine «unbestimmbare Anzahl von Genen in
unterschiedlicher Weise auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist»
(Witkowski & Hermann 1989), es unmöglich machen,
die Gen-Phän-Beziehungen zu erfassen. Direkte und erst
recht weiter entfernte Verwandte sind in einer Anzahl
von Merkmalen einander unähnlich, was durch die jeweils
neue Zusammensetzung der beteiligten Gene bei
multifaktoriell gesteuerten Merkmalen bedingt ist. Dies
führt innerhalb betroffener Sippen zu phänotypischen
Abweichungen (intrafamiliärer Variabilität), wobei die
Merkmalsausbildung, also die Manifestationsstärke der
beteiligten Gene (Expressivität) und die Manifestations-
häufigkeit (Penetranz) mitunter stark schwanken. Da in
einer Bevölkerung nur eine begrenzte Anzahl von
Ausprägungsvarianten eines Merkmals vorliegen, kommt
es ausserdem bei Betrachtung einer Vielzahl von
Merkmalen immer auch zu zufälligen, nicht auf Ver-
wandtschaft basierenden Übereinstimmungen.
Die Fortschritte auf dem Gebiet der molekularbiolo-
gischen Forschung ermöglichen seit wenigen Jahren
bestimmte anthropologische Basisdaten durch die Unter-
suchung von „alter DNA“ (aDNA) mittels PCR-Methoden
zu gewinnen (Herrmann & Hummel 1993). Im Hinblick
auf die Rekonstruktion früherer Bevölkerungen inte-
ressieren dabei vor allem Informationen über individuelle
genetische Eigenschaften. Hier stehen für den Bereich
der prähistorischen Anthropologie das Geschlecht sowie
die Verwandtschaftsgrade zwischen Einzelindividuen und
innerhalb von Subgruppen einer Bevölkerung im Vorder-
grund. Entsprechende Bestimmungen erfolgen an chromo-
somaler DNA. Die Diagnose des Geschlechts mittels
aDNA Analyse kann inzwischen routinemässig durch-
geführt werden. Damit stehen erstmals absolut zuverlässige
Daten über das Geschlecht zur Verfügung, sofern im Labor
mit der nötigen Sorgfalt (z.B. Vermeidung und Kontrolle
von Kontaminationen) gearbeitet wird (Hummel 1992;
Lassen et al. 1996). Ungleich schwieriger ist die
Feststellung von verwandtschaftlichen Beziehungen
zwischen Skelettindividuen oder von Subgruppen einer
Population. Hier ist man - wie bei der morphologischen
Ähnlichkeitsanalyse - in jedem Fall auf archäologische
Zusatzinformationen angewiesen (Bramanti et al. 2000;
Schultes et al. 2000; Zierdt 1995). Infolge fehlender
Individuen bzw. aufgrund schlechter Erhaltungs-
bedingungen von Skelettmaterial (Burger 1997) können
auch bei aDNA Analysen oftmals nur Teile einer Lokal-
population untersucht werden, wobei allerdings - im
Unterschied zur morphologischen Ähnlichkeitsanalyse -
gegebenenfalls auch die Ermittlung direkter Verwandt-
schaftsverhältnisse möglich ist. Wegen des hohen tech-
nischen und finanziellen Aufwandes von aDNA-Unter-
suchungen können diese derzeit in der Anwendung auf
Gräberfelder oder sonstige grössere Bestattungskomplexe
(z.B. Kollektivgräber) noch keine Alternative zu der hier
angewandten Verwandtschaftsanalyse darstellen. Für die
Untersuchung von Mehrfachbestattungen, herausragenden
Fundmaterialien und für besondere Fragestellungen sollte
die aDNA-Analyse allerdings bereits heute Priorität haben.
2.2 Grundsätzliche Überlegungen zur Rekon-
struktion genetischer Verwandtschaft
2.2.1 Methodische Grundlagen der anthropo-
logischen Verwandtschaftsanalyse
Prähistorische und historische Bestattungsgemeinschaften
(Kollektivgräber/Gräberfelder etc.) repräsentieren in der
Regel Mitglieder lokaler Bevölkerungen. Diese Sozial-
gemeinschaften enthalten Untergruppen biologisch bzw.
genetisch relativ eng zusammengehöriger Individuen.
Die methodische Grundlage der Rekonstruktion gene-
tischer Verwandtschaft innerhalb einer solchen Gemein-
schaft ist die Erwartung, dass biologisch verwandte Mit-
glieder einer Familie bzw. Subgruppe der Gemeinschaft
in einer Reihe familientypischer phänotypischer Charak-
teristika übereinstimmen oder sich zumindest sehr ähnlich
sind. Bei den Charakteristika sind sowohl quantitative
als auch qualitative Variablen denkbar, es werden hier
jedoch nur diskret auftretende Merkmale benutzt, so dass
stets das Vorliegen oder Fehlen eines Merkmals die
entscheidende Information bedeutet. Nähere Ausfüh-
rungen zur Auswahl und Definition geeigneter Merkmale
für eine solche Analyse finden sich in Kapitel 2.3.
In einer Verwandtschaftsanalyse müssen mit Hilfe