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schneidurigen geradezu zerstückt ist die Gestalt des auf diese Leiter gestiegenen Jünglings, der den Leich-
nam vom Kreuze gelöst hat. Hier wo die Tafel in ihrer Mitte erhöht ist und wo Joseph von Arimathia die
Hauptlast von Christi Körper in seinen unter die Achseln greifenden tuchbedeckten Händen empfängt,
ist das Geflecht der Bewegungsverschränkungen das kleinteilig reichste.
Wie wichtig immer auch die durchgreifenden, Gestalt mit Gestalt verbindenden und verschrän-
kenden Bewegungsmotive genommen sind, so entbehrt das Bild doch des großen Bewegungsflusses, wie
etwa barocke Bilder ihn haben, die große Kreuzabnahme des Rubens in der Antwerpener Kathedrale zum
Beispiel. Ausdrucksträger der rogierischen Komposition ist doch immer wieder das einzelne, ein einzelnes
Haltungsmotiv wie das der in sich zusammensinkenden, verzweifelt die Hände ringenden Magdalena oder
oft sogar auch nur ein einzelnes Antlitz, eine einzelne Hand32. Die Bewegungsenergien des Bildes sind
— darin ist es noch ein »primitives«, »archaisches« Werk — nicht zentriert, nicht einmal in den Einzel-
gestalten für sich genommen zentriert. Die einzelne Gebärde, der einzelne Gesichtsausdruck sind gleich-
sam selbständig da, der Gesamtausdruck ergibt sich nicht aus der organischen Einheit des Ganzen, er
wächst aus einer Vielfalt von Einzelmotiven zusammen, die überorganisch dann freilich doch wieder mit-
einander einstimmig und verflochten und dem kompositionellen Ganzen untergeordnet sein können.
Die überorganische Dynamik, die dem Bilde seine herbe Größe und Ausdruckskraft gibt, geht über das
einzelne hinweg; das organische Leben jedoch und der individuelle Ausdruck sind an diese Einzelheiten
gebunden.
Nichts ist dabei von nur oberflächlicher Wirkung. Die Kraft des Ausdruckes ist in den Antlitzen, den
Händen, den Gliedern ganz und gar innerlich. Die gesamte plastische Existenz ist von ihr durch-
drungen, es gibt nichts Totes, nichts, was nur unbeteiligte Masse wäre. Noch in jedem Stück Gewandfalte
ist etwas von der erregten Dynamik, die die Komposition bis in ihre letzten Winkel erfüllt. Überall ist
plastische Spannung, ähnlich wie in den Rippennetzen und Rippenmustern gewisser Gewölbekonfigura-
tionen gleichzeitiger spätgotischer Architektur. Auch die Gliedmaßen der Körper, die Falten der Gewan-
dungen sind gleichsam Rippen in dem abstrakten Kraftliniengerüst, das der Komposition sehr viel mehr
Halt gibt als die bisweilen äußerst bedenkliche Standfestigkeit der einzelnen Gestalten.
Hieraus begreift sich das ganze Wagnis des Werkes. Denn ein Wagnis war es, noch einmal ein so großes
Bild scheinbar ausschließlich auf die Komposition der Gestalten zu stellen, in einer Zeit, in der ja das
eigentlich Neue der Raum als Landschaftsraum oder als Innenraum war. Rogiers Bild reduziert diesen äuße-
ren Raum zum bloßen Gehäuse der plastischen Gruppe, die dafür nun aber selber raumhaltig wird. Alles
auf sie und die in ihr gestalteten inneren Raumwerte als das Eigentliche gestellt zu haben, dies ist die große
Leistung des Malers.
Als Rogier diese Löwener Kreuzabnahme schuf, tat er es zweifellos in bewußter Erinnerung an eine
bedeutende Schöpfung seines Meisters Campin und wohl auch in der bewußten Absicht, sie zu über-
treffen. Eine schlechte kleine Kopie in Liverpool, eine bruchstückhafte Zeichnung in Cambridge und
eine Miniatur überliefern uns ein unzureichendes, wenn auch im großen wohl zutreffendes Bild einer Kreuz-
abnahme von Rogiers Lehrer, die einst die Mitteltafel eines größeren Altarwerks gewesen sein wird, freilich
wohl kaum, wie man auf Grund der gemalten Kopie anzunehmen pflegt, jenes riesigen, von dem uns in
dem Frankfurter Schächerfragment die obere Hälfte des rechten Flügels erhalten ist und das aus ikono-
graphischen Gründen — die emporblickenden Hauptleute unterhalb des Schächerkreuzes beweisen dies —
im Mittelbilde eine Kreuzigung und nicht die Kreuzabnahme dargestellt haben muß33.
Die Kreuzabnahme des älteren Meisters (vgl. die Rekonstruktionszeichnung S. 49) zeigte eine Gestal-
tengruppierung ohne alle Ansätze zu jener Festigung von den Rändern her, wie Rogier sie gibt. Bezeich-

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