GESTALTETES SEHEN
VON HANS SEDLMAYR
»Beschreiben und Sehen eines Dings, zum Beispiel eines zum erstenmal vom Beschauer
wahrgenommenen Motors, stehen in eigentümlicher Wechselwirkung: Angenommen ich
verstehe nichts von dem Motor, der Funktion und dem Zusammenhang seiner einzelnen
Teile, so »sehe« ich einen Wirrwarr, bestenfalls eine Summe von eckigen und runden
Teilen, eine Beschreibung ist dann entweder überhaupt nicht (beim »Wirrwarr«) oder
nur als Aufzählung jener Teile möglich. Solche Beschreibung ist offenbar ebenso »schlecht«
wie solche Wahrnehmung. Ihr steht gegenüber eine Beschreibung, die Funktion und
Zusammenhang der Teile trifft, und ihr entsprechend ein gestaltetes Sehen des
Motors, wie es nicht nur einer solchen Beschreibung zugrundeliegt, sondern auch durch
sie bedingt werden kann.« v. Aster in einem Referate über K. Koffka.
Ein Beispiel aus dem Gebiete der Architektur. An dem fertigen Bau der berühmten Kirche
S. Carlo alle quattro fontane von Borromini könnte man zunächst drei Stufen des Sehens
unterscheiden. Die Schilderungen der älteren Literatur kommen überhaupt nicht zu einer
richtigen Beschreibung: sie sehen einen »verblüffenden Reichtum«, ein »interessantes Bild«,
diese und jene Einzelheit, aber keine Gliederung. Das Gebilde gestaltet sich ihnen nicht.
Die zweite Stufe wäre: Man sieht und beschreibt den Raum als ein Rechteck mit »ab-
gestumpften« Ecken, dessen Seiten sich in Bogen öffnen und eine massive Ovalkuppel tragen,
die mit trapezförmigen Zwickeln auf den »abgestumpften Ecken« ruht. Die Bogen in
In dem Artikel eckig eingeklammerte Sätze sind im allgemeinen Gedankengang entbehrlich.
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