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26

Hermine mar ein starkes Mädchen, sie hatte sich
vollständig wieder gefaßt nnd sich seht aufrichtend, sagte
sie, mit edlem Anstande sich verbeugend:
„Ich danke Ihnen, meine Herren, für Ihre Hilfe,
sie kam zur rechten Zeit. Ich glaube Ihnen die Mit-
theilung schuldig zu sein, wer ich bin und wie ich in
diese schreckliche Lage hinein gerathen."
Sie erzählte jetzt mit kurzen Worten ihre Vergangen-
heit und fügte am Schluß derselben hinzu:
„Ich fühle mich der Verpflichtung von nun an über-
hoben, mit meinem Vater fernerhin zusammen zu wohnen,
denn er ist nicht im Stande, mich vor einer solchen Gefahr,
die zu jeder Zeit auf's Neue an mich herantreten kann, zn
schützen. An Unterstützung, so viel in meinen Kräften
steht, soll es ihm nicht fehlen. Zn der Frau Pro-
fessor Dehnhardt kann ich auch nicht zurück, denn" —
hier mußte sie die Unwahrheit sagen, und sie fühlte,
wie ihr dabei das Vlut in's Gesicht stieg — „denn es
ist Besuch dort und kein Raum vorhaudeu. Zu meiner
Pflegeschwester Maria Wellbrandt wage ich mich nicht
zu gehen, die Frau Musikdirektor Waidmüller ist eine
sehr sonderbare Frau und ich fürchte, sie wird mich
sehr ungern, selbst nur für eiue Nacht, aufnehmen. So
bleibt mir nichts Anderes übrig, als Sie zu bitten,
meine Herren, mich zu irgeud einen:, wenn möglich zu
dem nächsten Hotel zu begleiten."
Den Einen der beiden Männer, die hinten in der
dunkeln Ecke dieser ganzen Scene ungesehen mit beige-
wohnt hatten, durchzuckte es plötzlich, als er während
der Erzählung Herminens den Namen Maria Well-
brandt vernahm. Er war im Begriff, alles klebrige
vergessend, rasch hervorzntreten, als er sich noch recht-
zeitig besann, und seine Erregung bemusternd, aus seinem
Platz verharrte.
„Sie sind die Pflegcschwester von Fräulein Well-
brandt," nahm Konrad Bollheim das Wort. „Ich
habe das Vergnügen, dieselbe zu kennen, und empfinde
eine große Verehrung für sie. - Fräulein Maria liebt
Sie herzlich, durch sie habe ich bereits einen Thcil
Ihrer Vergangenheit erfahren, ich hatte bis jetzt noch
nicht die Ehre, Sie Persönlich kennen zu lernen. Mit
Rücksicht daraus, daß ich ein Bekannter Ihrer Pflege-
schwester bin, wage ich, Ihnen das Anerbieten zu machen,
Sie zu meiner Schwester führen zu dürfen, wo Sie ein
vorläufiges Asyl finden würden."
„Sie sind sehr gütig, mein Herr, aber ein solches
Anerbieten — kann ich nicht annehmen."
„Warum nicht?"
„Was würde Ihre Fräulein Schwester denken, wenn
ihr plötzlich eine wildfremde Person in's Haus geführt
würde. In welchem Lichte müßte ich ihr erscheinen?"
„Das Auffällige würde ja sofort verschwinden, nach-
dem wir ihr die Veranlassung erzählt hätten. Meine
Schwester wird Sie mit Freuden bei sich aufuchmen,
sie ist ein gutes, liebes Mädchen."
„Ja, das ist sie!" siel Willibald lebhaft ein.
„Sie wird Sie um so freudiger begrüßen," fuhr
Bollheim fort, „wenn sie erfährt, in welchen Beziehungen
Sie zu Fräulein Wellbrandt stehen."
„Kennt sie Maria?"
„Ja."
„Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre Freundlich-
keit," sagte Hermine in entschiedenem Tone, „ich kann
Ihr Anerbieten dennoch nicht annehmen!"
Plötzlich schlug sie beide Hände vor's Gesicht und
rief verzweifelt aus:
„O, mein Gott! Bin ich denn nicht gezwungen, es
anzunchmen? Ich habe ja mein letztes Geld dein Vater
geben müssen! Wohlan, die Noth zwingt mich, so lassen
Sie uns gehen."
„Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Sie den
nothgcdrungenen Schritt ohne jede Demüthiguug machen
sollen."
„Ich danke Ihnen."
Das junge Mädchen und die beiden jungen Männer
setzten sich in Bewegung, hatten aber noch nicht die Aus-
gangsthür erreicht, als sich hinter ihnen eine unver-
muthete Scene abspielte. Die Beleuchtung des Flurs
war plötzlich eine hellere geworden; als sie, durch den
lebhafteren Schein veranlaßt, sich unwillkürlich um-
wandten, sahen sie in der geöffneten Thür von Herrn
Stölzer's Wohnzimmer eine Gestalt in tiefstem Negligo
stehen, in der Hand die Lampe haltend, die bis dahin
auf dem Sophatisch gestanden. Mit grinsendem, halb
blödsinnigem Lachen blickte sie aus den Flur und rief:
„Herr Andreas, Herr Andreas! Wo sind Sie denn?
Hat die stolze Prinzessin Ihre Liebe zurückgewiesen?
Aehnlich sieht es ihr! Wo sind Sie nur?"
Aber wie nut einem Zauberschlage veränderte sich
das Gesicht des Mannes. Der Schein der Lampe war
auch bis in die Ecke gedrungen, wo die beiden Männer
standen, die der ganzen Vorhergehendei: Scene beigewobnt
hatten. Seine Augen traten hervor, sein Körper erbebte,
mit stierem Blick sah er einen Augenblick unverwandt
nach der Ecke, dann schrie er wild: „Der Kalifornier!
Der Kalifornier!" warf die brennende Lampe weit hin
in der Richtung, wo die beiden Männer sich befanden,
von denen der Eine ihn so gewaltig erschreckt haben

Das Buch für Alle.

mußte, daß sie auf den steinernen Fliesen des Flurs in
tausend Stücke zerschellte, sprang Ecks Zimmer zurück
uud warf die Tyür hinter sich in's Schloß.
„Das war mein Vater!" sagte Hermine mit einen:
tiefen Seufzer. „Solche Anfälle temporären Wahnsinns
habe ich oft bei ihn: gesehen. O, ich habe eine ent-
setzliche Zeit an seiner Seite verbracht!" —
Nun gingen sie. Der Gewitterregen hatte aufgehört,
der Mond schien hell vom Himmel herunter, und nach
kurzer Zeit hatten sie das Haus des Herrn Bankier
v. Bollhein: erreicht.
3.
Die beiden Männer, welche ebenfalls, wie wir er-
wähnten, Zeugen der im vorigen Kapitel beschriebenen
Vorgänge gewesen waren, gingen, nachdem durch das
Zerschmettern der Lampe völlige Dunkelheit eingetretcn
war, durch ein kleines Vorgemach wieder in ein Hell-
erleuchtetes Zimmer zurück, dessen Fenster nach dem
Klostergarten führten.
„Das war eine sonderbare Unterbrechung," sagte der
Größere der Beiden, ein Mann von reichlich fünfzig
Jahren und von kräftigem Körperbau, mit graumelir-
tem, vollem Haupthaar, sowie einen: Backenbart von
derselben Farbe, der das Kinn frei ließ, zu beiden Seiten
aber lang herabhing. „Kanin daß ich erfahre, Sie
seien Derjenige, den ich suche, so ertönt der Hilferuf uud
treibt uns auf den Flur."
„Womit kann ich Ihnen dienen?" srug der Bewoh-
ner des Zimmers, eine kleine zusammengeschrumpfte
Gestalt mit einer großen Brille und einen: Sammet-
käppchen auf den: kahlen Kopfe.
„Ich möchte Sie bitten, mir eine Frage zu bcant-
worten. Mein erster Weg, um Sie auszukundschaften,
war nach dem Gefüngniß, wo mir der alte Oberinspek-
tor sagte, daß Sie schon vor Zwanzig Jahren als Ge-
fnngenwürter entlassen worden seien und jetzt im alten
Kloster wohnten."
„Ich besuche den Oberinspektor noch bisweilen."
„Sie sind entlassen worden, weil Sie einen: Ge-
fangenen, den Sie für unschuldig hielte::, zur Flucht
Verholfen haben."
„Ich wnrde entlassen wegen fahrlässiger Schließung
der Gefängnißthürcn, weiter konnte man mir nichts be-
weisen."
„Wie ich Ihnen schon sagte, nenne ich mich John-
son; als Theaterdiener sind Sie nicht vor zehn Uhr zu
sprechen, bei Tage wollte ich Sie nicht aufsuchen, denn
ich komme zu Ihnen, Herr Hantelmann, im Namen
desjenigen, den: Sie damals die Thüre des Gefängnisses
geöffnet haben."
Der ehemalige Gefangenwürter hob den Kopf in
die Höhe und sagte rasch:
„Lebt Wellbrandt noch?"
„Ja."
„Und es geht ihn: gut?"
„Er ist ein reicher Mann geworden."
„O, das freut mich."
„Hätte mein Freund Wellbrandt gewußt, daß Sie
seinetwegen Ihre Anstellung verloren, so würde er schon
längst eine Entschädigungssumme geschickt haben. Hier,"
sagte er, indem er einen Kassenschein aus seiner Brief-
tasche herausnahm, „nehmen Sie vorläufig diese kleine
Summe für erlittenes Ungemach in Empfang, eine noch
größere bekommen Sie, wenn Sie nur meine Fragen
unumwunden beantworten und nur bei meinen: ferneren
Vorhaben Ihre Hilfe leihen wollen."
Hantclmann nahm das Papier in die Hand, warf
einen Blick darauf uud rief verwundert aus:
„Wie? Die ganze Summe soll mir gehören? Un-
möglich! Sie haben sich versehen, Herr Johnson!"
„O nein!"
„O mein Gott, das kann ja gar nicht sein, das ist
ja ein Vermögen, eine Hundertpfnndnote! Lieber Himmel!
da kann ich ja für die Ausbildung meiner beiden Enkel
sorgen, zwei herrliche, kluge Juugen — sie schlafen hier
nebenan, der Vater — mein Sohn — ist kürzlich Kammer-
diener bei der Reichsgräfin Felseck geworden."
„Gehört der junge Herr, den wir soeben belauscht
haben, zu dieser Familie?"
„Nach der Beschreibung, die mir mein Fritz gemacht
hat, ist es der junge Reichsgraf."
„Also, wie 'gesagt, Herr Hantelmann, bin ich beauf-
tragt, Ihnen eine noch größere Summe einzuhäudigen,
wenn Sie mir — —"
„Noch größere?" jubelte der kleine Mann, sprang
von seinem Sitz empor und tanzte im Zimmer wie ein
Unsinniger umher. „Noch größere? O, dann bin ich
ja ein reicher Mann! Wer nur für meine alten Tage
noch Neichthnn: prophezeit hätte, den: hätte ich in's
Gesicht gelacht!"
Er eilte zu Johnsou's Platz zurück, legte seine Hand
auf desseu Schulter uud sagte jetzt vou Rührung über-
mannt :
„Dank, tausend Dank, Sie großmüthiger Mann.
Fragen Sie — Alles was ich weiß, will ich Ihnen
sagen!"
„So hören Sie. Als Sie vor zwanzig Jahren in der
Nacht in Wellbrandt's Zelle drangen, ihm einen Hundert-

_ Heft 2.
thalerschein in die Hand drückten und ihm sagten:
,Fliehen Sie, dies schickt ein Freund Ihnen, der Sie für
unschuldig hält, fliehen Sie damit nach Amerika!' da
drang der erste Lichtstrahl in die Seele des Gefangenen,
den ein finsteres Geschick unschuldig verurtheilt hatte. Sein
erster Weg war zu seiner Schwester, bei der er seine kleine
Tochter untergebracht. Er nahm Abschied von dem kleinen
Engel, dem Theuersten, was er auf Erden besaß, denn seine
Frau war kurz vorher gestorben, und verabredete einen
Briefwechsel mit der Schwester, die ihm mit Wort und
Handschlag versprach, das Kind nicht zu verlassen; da-
gegen legte er das Versprechen ab, sowie er drüben in
dem fremden Lande etwas verdiene, es zu schicken
für den Unterhalt der Kleinen. Der Morgen graute
bereits, als er die Stadt zu Fuß verließ, um zu der
nächsten Station zu wandern, wo er den Bahnzug be-
stieg, der nach Hamburg fuhr. Hier konnte er sofort
ein Auswandererschisf besteigen, das nach Kalifornien
segeln wollte. Das Wohin war ihm gleichgültig —
nur fort ans Europa, wo sein Name aus der Liste ehr-
licher Leute für immer gestrichen war, wo ein Schwur-
gericht ihn wegen schweren Diebstahls verurtheilt hatte,
weil er den scheinbaren Beweisen seiner Schuld nichts
Anderes entgegen zu stellen vermochte, als das einfache
Wort: Ich habe es nicht gethan! In Kalifornien ging
cs ihm abwechselnd schlecht nnd gut. Nach Jahresfrist
bekam er von seiner Schwester die Anzeige, daß sein
Kind gestorben. Er gewann in dem Goldland Schätze
und verlor sie wieder, ja fast sein Leben dabei, denn
als er einst einen Goldklumpen gefunden von mächtiger
Größe, suchte eiu Anderer, ein Bekannter von ihm, sich da-
durch in den Besitz desselben zu setzen, daß er ihn um's Leben
zu bringen strebte. Letzteres gelang ihm nicht, denn die
Wunde, die er ihm beibrachte, war nicht tödtlich, mit
dem Gold indeß entkam der Dieb. Es währte lange,
ehe er sich von der Verwundung erholte, dabei ging der
Rest seiner Ersparnisse verloren. Um diese Zeit ver-
breitete sich das Gerücht, daß am Vaalslusse in Süd-
Afrika ein Diamantenfeld entdeckt sei. Es bildete sich
sofort eine Gesellschaft, die dahin auswandern wollte,
und Wellbrandt schloß sich derselben an. War das Glück
ihm in Kalifornien nicht günstig gewesen, in Afrika schüt-
tete es sein Füllhorn über ihn aus, denn in der Nähe
des Orangcflusses fand er ein förmliches Diamanten-
lager, darunter einen Stein von immenser Größe. Jetzt,
in: Besitze eines Vermögens, sehnte er sich ans dem
dortigen wüsten Leben nach civilisirten Verhältnissen
zurück. Er ging wieder nach Amerika, nach New-Pork,
wo er eine Maschinenfabrik in großem Maßstabe an-
legte, und wo das Glück fortsuhr, ihm zur Seite zu
stehen. Von seinen: Rcichthum wollte er der Schwester
etwas abgeben. Die Summe, die er ihr schickte, kam je-
doch mit der Nachricht an ihn zurück, daß die Schwester,
sowie deren Mann, schon seit mehreren Jahren verstor-
ben seien. Es ist noch kein Vierteljahr verflossen, da
trifft Wellbrandt unter den Arbeitern feiner Fabrik zu-
fällig einen älteren Mann an, der aus dieser Stadt
gebürtig und ein Verwandter feines verstorbenen Schwa-
gers war. Geschickt weiß er ihn, ohne sich zu ver-
rathen, nach den Verhältnissen seiner Familie auszu-
forschen, nnd erfährt von ihm die fast unglaubliche, ihn
erschütternde, aber zugleich mit den seligsten Hoffnungen
erfüllende Thatsache, daß feine Tochter nicht gestorben,
wie ihm die Schwester geschrieben, sondern noch lebe.
Der Gatte dieser Schwester war ein herzloser, geiziger
Mann; er hatte seine Frau gezwungen, so erfuhr Well-
brandt von dem Arbeiter weiter, als nach Ablauf eines
Jahres von dem Vater des Kindes noch kein Kostgeld ge-
schickt wurde, die kleine Maria zugleich mit einem an-
deren Kinde, für welches ebenfalls das Kostgeld ausblieb,
aus den Händen zu geben. Wellbrandt's Schwester
hatte meistens immer fünf bis sechs kleine Kinder in
Kost, die sie für eine angemessene Summe aufzog. Zwei
Kinder umsonst aufznfüttern, das wollte der geizige
Mann nicht zugeben nnd deshalb dieselben der Armen-
anstalt überliefern. Die Frau hatte früher bei einer-
vornehmen kinderlosen Dame gedient; letztere war eine
große Kinderfreundin und besuchte sie bisweilen, wo sie
dann oft Stunden lang mit den kleinen Kostgängern
sich unterhalten nnd spielen konnte. Ihr klagt die Frau
in der Verzweiflung ihre Noth. Die Dame entfernt sich und
kehrt nach kurzer Zeit mit ihren: Gemahl zurück. Der Gatte
ist entzückt von der Lieblichkeit der beiden kleinen Mäd-
chen, und noch selbigen Tages werden die Kleinen in das
Haus dieser vornehmen Leute gebracht, wo sie wie die
eigenen Kinder erzogen werden sollten. Die Pflegeeltern
sind vor einigen Jahren gestorben, nnd was nnn aus
den Leiden Mädchen geworden, konnte der Arbeiter mei-
nem Freunde Wellbrandt nicht berichten. Das aber
hatte die Schwester ihm, dem Arbeiter, selbst vor Jah-
ren mitgetheilt, daß sie nur aus den: Grunde ihrem
Bruder den Tod seines Kindes angczeigt, weil sie den
Eid gebrochen, den sie ihn: geleistet, nie die kleine Maria
zu verlassen. Sie hatte hinzugefübt: Mein Genüssen
findet nur darin einen Trost, daß jetzt in besserer Weise
für sie gesorgt wird und sie jetzt vielleicht nie er-
fährt, daß ihr Vater ein Verbrecher war. Sie glaubte
an seine Schuld und war auch überzeugt, daß er in
 
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