Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
M 2._
dem fremden Lande elend zu Grunde gehen würde.
— In welche Aufregung Wellbrandt bei dieser Mct-
theilung gerieth, können Sie, Herr Hantelmann, sich
wohl vorstellen. Längst schon hatte er in den glän-
zenden Verhältnissen, in denen er lebte, feinen inne-
ren Frieden wieder gewonnen. Er war geachtet und
hochgeehrt. Die vornehmsten Leute, der Präsident selbst,
verkehrten in seinem Hause. Er hatte die Bitterkeiten,
die Europa ihm bereitet, längst überwunden; er war
für Europa ein Gestorbener und in Amerika als ein ganz
anderer Mensch wieder aufgestanden. Da zerreißt Plötz-
lich diese Nachricht den Frieden seiner Seele, zerstört die
Nuhe, die ihm die neue Heimath gebracht. Mit^dem
glücklichen, überwältigenden Bewußtsein, daß seine Toch-
ter noch lebe, stellt sich zugleich der schon lange Zeit
geheilte Schmerz wieder ein, daß in Europa auf seinem
Namen noch der Makel des Diebstahls ruhe, daß er
nicht im Stande sei, vor seine Tochter hinzutreten als
ehrlicher, unbescholtener Mann. Er brennt vor Sehn-
sucht, seine Tochter an's Herz zu drücken, aber er will
es nicht eher, als bis seine Unschuld entdeckt ist, er will
vor seinem Kinde die Augen nicht niederschlagen. Wohl
hat er in den ersten Jahren vielfach darüber nachgedacht,
wer wohl Derjenige gewesen sein könne, der ihm den Hun-
dertthalerschein in's Gesängniß geschickt. Er konnte sich
keines Freundes entsinnen, der in der Lage war, eine
solche Summe der Freundschaft zu opfern. So kam er
bald zu dem Resultat, daß es der wirkliche Thäter selbst
gewesen sein müsse, der cs gethan, entweder, weil sein
Gewissen ihn dazu trieb, oder weil er den Unschuldigen
so weit als möglich aus seiner Nähe entfernen wollte.
Wohl hat er daran gedacht, daß diese Thatsache als
Beweis seiner Unschuld dienen könne, aber in der ersten
Freude über seine Freiheit fiel ihm das nicht ein, später
war er ein Entflohener, ein Entsprungener, wer sollte seine
Sache führen? Nach der Todesnachricht seines Kindes zer-
riß er jedes Band, das ihn noch mit der Heimath, die ihn
so stiefmütterlich behandelt, verknüpfte, er wollte nie mehr
dahin zurück, bis er erfuhr, daß seine Tochter lebe.
Jetzt aber hat er die Absicht, mit allen Mitteln, und
möge es sein ganzes Vermögen kosten, zu erstreben, daß
seine Unschuld an den Tag gelange. Können Sie sich
meine Ueberraschung vorstellen, als ich vorhin den Na-
men Maria Wellbrandt vernahm? Jetzt weiß ich das
wenigstens schon, wo das liebe Mädchen zu finden ist.
O, wie sehne ich mich — "
Er unterbrach sich und fuhr gleich daraus fort:
„Der Umstand seiner Befreiung hat Wellbrandt's
Gedanken schon lange in Anspruch genommen; hier muß
nach seiner Meinung die erste Nachforschung beginnen,
und deshalb komme ich zu Ihnen, Herr Hantelmann,
um Sie zu fragen, was können Sie mir Näheres dar-
über mittheilen? Verhehlen Sie mir nichts, einer glän-
zenden Belohnung können Sie sich versichert halten.
Wer gab Ihnen den Hundertthalerschein für Well-
brandt?"
„Das kann ich Ihnen mit dem besten Willen nicht
sagen, er wurde mir als Einlage eines anonymen Briefes
zugeschickt."
„Eines Briefes?"
„Ja."
„Haben Sie den Bries noch?" fragte Johnson rasch.
„Ich habe ihn noch. Ja, ich habe ihn viele Jahre
mit mir herum getragen, Jagd machend aus jede fremde
Handschrift, uni sie mit der des Briefes vergleichen zu
können, denn ich wollte den Schreiber finden, wollte von
ihm Ersatz haben für mein verlorenes Amt, aus dem
ich nur in Folge dieses verführerischen Brieses entsetzt
war, — verführerisch, weil der Schreibermich durch einen
Fünszigthalerschein, der dem größeren Nachfolgen und
mir gehören sollte, zu einer gesetzwidrigen Hand-
lung verleitet hatte. Leider habe ich nie eine Hand-
schrift entdeckt, von der ich hätte sagen können, sie wäre
dieselbe wie die meines Brieses."
„Wo? Wo ist der Brief?"
„Ich habe ihn dort in meinem Pulte aufbewahrt."
„Den Brief muß ich haben! Nicht wahr, Sie wer-
den ihn mir geben?"
„Gewiß, er steht Ihnen zur Disposition, nur will
ich wünschen, daß Sie mehr Glück haben als ich, wenn
Sie Ihre Entdeckungsreise antreten."
„Das möge der Himmel geben! — Wenn der Schrei-
ber nur noch am Leben ist! Ist er es aber, so werde
ich ihn aufsinden, denn ich ruhe nicht eher, als bis ich
mein Ziel erreicht habe!"
Der alte Theaterdiener holte aus dem wurmstichigen
Pulte eine schmierige Brieftasche hervor, aus der er einen
schmutzigen Lappen Papier herausnahm, den er Herrn
Johnson hinreichte.
„Hier ist der Brief?"
Der Amerikaner entfaltete denselben und las laut
wie folgt:
„Air den Gefangenwärter Hantelmann!
Wellbrandt ist unschuldig. Oefsnen Sie sein Ge-
sängniß und geben Sie ihm einliegenden Hundertthaler-
schein unter der Bedingung, daß er nach Amerika ent-
flieht. Das Schwurgericht hat ihn verurtheilt, Beweise
seiner Unschuld können niemals erbracht werden, das

Das Buch für Alle.
weiß ich gewiß. Seine Zukunft ist hier vernichtet, so
soll er wenigstens seine Freiheit wieder haben. Möge
das Glück ihm tausendfach ersetzen, was er hier ver-
loren. Sowie ich vernommen, daß er entkommen ist,
schicke ich Ihnen mit der Post fünfzig Thaler."
Johnson legte langsam den Bries wieder zusammen
und sagte nach längerem Nachsinnen:
„Das scheint nicht die Sprache eines gemeinen Ver-
brechers. Aber wer sollte sich sonst für den armen Schlosser
Wellbrandt interessirt haben? Und dennoch, dennoch kann
ich mich von dem Gedanken nicht losreißen, daß der
Thäter selbst diesen Brief geschrieben. Es gibt auch gut-
müthige Schurken, ich habe deren eine nicht geringe Zahl
kennen gelernt; auch Ihnen, Herr Hantelmann, werden
solche in Ihrer früheren Praxis ausgestoßen sein. Ja,
es gibt Menschen, die heute nicht vor einem Verbrechen
zurückschrecken, und morgen in Jammer zerfließen, wenn
sie einen Anderen leiden sehen. Solche Doppelnaturen
sind gar nicht selten." —
„Diese Handschrift," fuhr er nach einer Pause fort,
„ist keine alltägliche, und wenn gleich sie etwas ver-
stellt scheint, so hat der Verfasser doch nicht die charak-
teristischen Schnörkel über dem ,rll und am Ende jedes
Wortes unterdrücken können. Man würde ihn gerade
hieran leicht erkennen können, sähe man ein anderes
Schriftstück von ihnc. Er ist der Thäter, Hantelmann!"
Johnson erhob sich, steckte den Brief in seine Tasche
und sagte:
„Was rief uns eigentlich der Vater des jungen
Mädchens zu, als er uns die Lampe an den Kopf wer-
fen wollte?"
„Der Kalifornier! Der Kalifornier?"
„Er leidet an temporärem Irrsinn, wie wir aus der
Erzählung seiner Tochter vernahmen und muß uns für
Gespenster gehalten haben! Sonderbar, der ganze Mensch
kam mir bekannt vor, und doch erinnere ich mich nicht,
jemals ein so von Blatternarben zersetztes Gesicht und
eine solche fast absolute Glatze gesehen zu haben."
„Er ist ein wunderlicher Kauz."
„Adieu, Herr Hantelmann," sagte Johnson, dem
Theaterdiener die Hand reichend, „es ist spät geworden;
nehmen Sie meinen Dank für diesen werthvollen Brief."
„Nehmen Sie auch meinen Dank für das großartige
Geschenk, Herr Johnson, verfügen Sie ganz über mich,
ich will Ihnen behilflich sein, so viel in meiner Macht
steht."
Der Alte nahm die Lampe in die Hand, um seinem
Gast hinaus zu leuchten.
„Einen Augenblick noch!" sagte Johnson. „Existirt
die Firma Rauhberger und Kleinschmidt noch?"
„Nein," erwiederte Hantelmann, „sie ist schon vor-
vielen Jahren kopfüber gegangen."
„Wie? Das große Geschäft hat fallirt?"
„Der Inhaber, Herr Kleinschmidt, beging die Thorheit,
zum zweiten Male zu Heiratheu, und zwar eine junge hübsche
Schauspielerin. Die grenzenlose Verschwendungssucht
der Frau hat ihn ruinirt. Als Alles durchgebracht
war, lief die Frau davon, er selbst genoß das Gnaden-
brod bei einem seiner früheren Commis, bei dem Ban-
kier Bollheim, dem jetzigen Freiherrn v. Bollheim. Ich
erfuhr heute im Theater, daß er geadelt ist."
„Bollheim war früher bei Kleinschmidt?"
„Allerdings. Aber wenn Sie geneigt sein sollten,
diesen edlen Mann mit Ihrem Bries in Verbindung zu
bringen, so rathe ich Ihnen sehr, solche Gedanken anf-
zugeben, einen besseren Mann trägt die Erde nicht.
Was der für die Armen thut, ist gar nicht zu sagen.
Die ganze Residenz, der ganze Hof, alle Menschen ver-
göttern ihn!"
„Nun, nun, ereifern Sie sich nur nicht, guter Herr
Hantelmann. Wer so allgemein geachtet ist, an dein
geht selbstverständlich mein Verdacht vorüber. Aber
Sie könnten mir einen Gefallen thun. Der Gedanke
wird nicht so abenteuerlich sein: wo der Diebstahl am
Hellen, lichten Tage ausgeführt ist, da muß höchst wahr-
scheinlich der Dieb zu Hause, oder doch wenigstens sehr-
bekannt gewesen sein. Suchen Sie, wenn möglich, schon
morgen zu erforschen, welche Menschen vor zwanzig
Jahren um die Pfingstzeit im Geschäft des Herrn Klein-
schmidt sich befanden und welche mit dem Geschäft in
näherer Berührung standen. Es werden gewiß doch noch
Einige von ihnen am Leben sein?"
„O ja, der alte Buchhalter Ohlsen lebt noch, von
ihm werde ich das wahrscheinlich sehr genau erfahren
können. Ich werde ihn morgen schon besuchen."
„Gut denn, und wenn Sie etwas erfahren, so statten
Sie mir Bericht ab. Wollen Sie?"
„Mit Vergnügen."
„Ich wohne Hotel Merwitz 41. Noch einmal
meinen Dank. Gute Nacht." Hantelmann begleitete
den Amerikaner bis an die Hausthüre, und Letzterer-
sprach leise vor sich hin, als er die einsame Kloster-
straße hinausschritt:
„Ihr Sterne da droben, ihr wißt, daß ich unschul-
dig bin, o, leuchtet mir aus dem Wege, den ich jetzt
betreten will, um meine Ehre wieder zu erlangen, da-
mit mein Kind, meine Maria, nicht nöthig hat zu er-
röthen, wenn sie an die Brust ihres Vaters sinkt. Der

27

Alte hat mich nicht erkannt, es war ja auch kaum mög-
lich, da er mich fast nur in der dunklen Zelle gesehen !"
Raschen Schrittes ging er in sein Hotel zurück. Hier-
trat er in's Entröezimmer, ließ sich das Adreßbuch geben,
blätterte kurze Zeit darin und entfernte sich ebenso rasch.
Durch Fragen, die er an verschiedene nächtlich wan-
dernde Menschen richtete, gelang es ihm, die alte Thea-
terstraße aufzufinden und zu erfahren, wo das Haus
Nr. 14 sei.
„Erste Etage," murmelte er.
Dein Hause Nr. 14 gegenüber, an der anderen Seite
der Straße, befand sich eine Bank. Auf diese setzte er
sich nieder, er achtete nicht darauf, daß sie vom Regen
naß geworden, unverwandt schaute er nach dem ersten
Stock hinauf, wo Alles in tiefem Schlafe lag. Thräne
um Thräne.rollte in den ergrauenden Bart, „Maria!"
war der einzige Laut, der seinen Lippen entquoll. Es
war spät in der Nacht, als er den Rückweg antrat.
4.
In einem mittelgroßen, elegant ausgestatteten Zimmer
der Beletage des in der Schloßstraße gelegenen Hauses
Nr. 28 lag ausgestreckt auf einer Chaiselongue ein
junger Mann von einundzwanzig Jahren, mit einem
sehr bleichen Gesicht und einer verbundenen Hand, die
auf einem daneben stehenden Tisch ruhte. Er hatte
die Augeu geschlossen, nnd wenn nicht von Zeit zu
Zeit ein nervöses Zittern um die Lippen sichtbar gewesen
wäre, so hätte man ihn für eine Leiche halten können.
Nur wenn irgend ein Geräusch sich auf dem Korridor
vernehmen ließ, rieß er die großen, tiefliegendendcn
Augen weit auf und stierte gespannt nach der Eingangs-
thür, als wenn er sehnsuchtsvoll erwartete, dort Jeman-
den eintreten zu sehen. Hörte das Geräusch auf oder-
erkannte er die Ursache desselben als solche, die mit
seiner Erwartung nichts zu thun hatte, dann sanken
die Augenlider matt wieder herab.
So schlaff und kraftlos in diesem Augenblick auch
der Körper des jungen Mannes sein mochte, so wild
und mächtig tobte es in seinem Innern. Es waren
gewaltige Gefühle, die seine Brust durchrasten, ein plötz-
lich entstandener Haß gegen Denjenigen, der sich unbe-
rufen in seine Angelegenheiten gemischt und ihn zu einem
schmählichen Rückzug gezwungen hatte, und eine lodernde
Leidenschaft für das junge Mädchen. Durch ihren
Widerstand war dies Gefühl zu einer Gluth herange-
wachsen, die bei der nächsten Gelegenheit vielleicht schon
den Damm durchbrechen und nicht eher rasten würde,
bis sie ihr Ziel erreicht.
Neichsgraf Andreas hatte selten nöthig gehabt, sich
einen Wunsch zu versagen; was er nicht mit Leichtig-
keit erreichen konnte, hatte er mit List, meistens mit
Gewalt zn erzwingen gesucht. Verwöhnt, verzogen von
einer Mutter, die seines körperlichen Leidens wegen ihn
wie ihren Augapfel hütete, die jeden, noch so unsinnigen
Wunsch, ans dem er eigensinnig bestand, ihm erfüllte,
in der Besorgniß, jede Aufregung könne das unglück-
selige Nasenbluten, an dem er so häufig litt und das so
schwer zu stillen war, wieder Hervorrufen, — von
Jugend aus verhätschelt und verweichlicht, war er heran-
gewachsen. Wohl war er körperlich schwach, dafür aber-
ausgerüstet mit einem Willen, der durch keineu Mahn-
ruf der Vernunft sich Zügel aulegen ließ, sondern durch
den geringsten Widerstand bis zum ausgeprägtesten
Eigensinn sich steigerte, der keine Schranken anerkannte,
und da, wo er nicht ans dem geraden Wege sein Ziel
erreichen konnte, es auch nicht verschmähte, mit List
und Verschlagenheit krumme, gefährliche Pfade zu be-
treten.
Bei allen Unternehmungen stand ihm ein williger
Helfershelfer zur Seite; es war sein Diener Joseph,
ein kluger, geriebener Bursche, der die Welt in gewisser
Beziehung sehr genau kannte, und zu Allem bereit Ivar,
zu Allem seine Hand bot, da sein Herr außergewöhn-
liche Dienste stets reichlich belohnte.
Der junge Reichsgraf besaß unstreitig einen sehr-
scharfen Verstand, ein rasches Auffassungsvermögen und
den lebhaften Trieb, etwas zu lernen. Wäre dieser
nicht von der Natur ihm mitgegeben worden, so hätte
wohl nichts in der Welt ihn so weit gebracht, die Uni-
versität beziehen zu können. Es war ganz allein sein
eigenes Verdienst, daß er sich den hinreichenden Grad
von Kenntnissen erworben hatte.
Als er Hermine Stölzer zum ersten Male auf der
Straße begegnete, da war er vor Ueberraschung stehen
geblieben, denn er hatte noch nie zuvor, wie er glaubte,
ein so schönes Mädchen gesehen. Ihm war gar nicht
der Gedanke gekommen, daß seinen nnlauteren Absichten
Hindernisse begegnen könnten, um so weniger, als er
durch Joseph, den er am andern Tage sofort auf Kund-
schaft ausgeschickt, erfahren, daß sie die Tochter eines
sehr verkommenen Vaters sei. Die stolze Zurückweisung
Herminens vor dem Bilderladen hatte seine Gefühle
nicht herabgestimmt, im Gegentheil! Auf dem geraden
Wege ging es nicht, so steckte er sich hinter den Vater,
den er nur zn bereitwillig sand, auf seine Pläne einzu-
gehen. Nun konnte es nicht fehlen. Mit Geld war
ja Alles zn erreichen. Aber er hatte sich verrechnet!
 
Annotationen