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Heft 5. _
herrlichen Thale, das von üppigen Hagedornheckcn, Bä-
chen und schattigem Buschwerk durchschnitten und von
Wäldern begrenzt war. Es wimmelte hier von Dingen,
die ihn interessirten. Der Wald war während der Mit-
tagsstunde leicht zu erreichen, und welche Menge von
Nestern bot er, wie viele nie gesehene Insekten, Blumen
und Pflanzen. Aber leider sollte dies glückliche Leben
keinen langen Bestand haben. Als Tom etwa els Jahre
alt war, gab ihn sein Vater in die Lehre zu einem trunk-
süchtigen Schuhmacher, welchem die Lieblingsneigung
des Knaben besonders verhaßt war und der sie ihm mit
Hilfe seiner rohen Fäuste auszutreiben versuchte. Tom
erfuhr eine so unbarmherzige Behandlung, daß er eines
Tages entlief und zu Fuß bis nach Kettle, seinem Ge-
burtsort, marschirte, wo Verwandte seiner Mutter wohn-
ten. Er fand hier indessen eine so wenig günstige Aus-
nahme, daß er sich genöthigt sah, ties beschämt und
gedemüthigt nach Hause zurückzukehren.
Er kam nun zu einem anderen Lehrmeister, bei dem
er mehr sein eigener Herr war und Zeit gewann, einen
kleinen botanischen Garten anzulegen, den er mit selte-
nen, wildwachsenden Blumen bepflanzte. Nachdem er
seine Lehrzeit überstanden, arbeitete er, obgleich er seine
Prosession nicht liebte, als Schuhmacher und würde es
vielleicht zu einer Art von Zufriedenheit gebracht haben,
wenn nicht Arbeitsmangel eingetreten wäre, der ihn
zwang, feine wenigen Sparpfennige aufzuzehren. Er
versuchte nun, sich aus einem nach Amerika bestimmten
Schiffe als blinder Passagier einzuschmuggeln, wurde
aber aufgefunden und an's Land gefetzt.
In seiner Verzweiflung ließ er sich hierauf in der
Miliz in Aberdeen anwerben, aber die militärische Dis-
ziplin war, wie sich denken läßt, das seinem Wesen am
wenigsten Angemessene. Er wurde mehrsach bestraft, weil
er Reih und Glied verließ, wenn ein seltener Schmetter-
ling vorüberflog, und als er dies einst auch bei einer
Parade that, rettete ihn nur die warme Fürsprache einer
mit dem Kommandanten befreundeten Dame vor harter
Züchtigung. Er wurde auf ihr Fürwort entlassen, ohne
daß sich indessen seine Verhältnisse dadurch verbessert
hätten. Um der verhaßten Schusterei zu entgehen, ver-
suchte er sich in mehreren anderen Berufszweigen — er
bekleidete selbst einmal für kurze Zeit den Posten eines
Kirchendieners — da er aber nur zu einer einzigen Be-
schäftigung, der mit der Natur, Lust und Talent hatte,
so gelang es ihm nirgends, festen Fuß zu fassen. Schließ-
lich fand er in Banff Arbeit als Schuhmacher — aber
auch hier gerieth er sowohl mit feiner Wirthin wie
mit feinen Mitgefellen in häufige Konflikte, wenn er
sie in allzu nahe Berührung mit feinem Gethier brachte.
Als Thomas Edward zwanzig Jahre alt war, ver-
heirathete er sich mit einer Frau, die ihn zwar eben-
falls als einen „wunderlichen Heiligen" betrachtete, aber
ihn doch so weit verstand, daß sie sein „Ungeziefer" nicht
aus dem Hause warf, ja ihm sogar hie und da bei der
Beschäftigung damit zur Hand ging. Jetzt, wo er Raum
und Duldung für seine Schätze fand, fing Edward an,
feine Sammlungen zu ordnen und systematisch zu ver-
mehren. Da sein Verdienst nicht mehr als neun bis
zehn Schillinge wöchentlich betrug, konnte er seine Ar-
beitsstunden allerdings nicht abkürzen, aber er hielt Zeit
und Geld ängstlich zu Rathe, verschwendete weder je
eine Minute noch einen Pfennig, und so wurdei hm das
unmöglich Scheinende möglich.
Die Ausrüstung zu seinen Jagd- und Streiszügen
war eine ziemlich seltsame und primitive. Er hatte für
Schilling eine alte Flinte gekauft, die sich in so
desolatem Zustande befand, daß er den Lauf mit dickem
Schusterdraht an den Schaft befestigen mußte. Sein
Schießpulver befand sich in einem Kuhhorn, zum Ab-
messen der Ladung bediente er sich eines alten Pfeisen-
kopses. Seine Jagdbeute transportirte er in einem Sacke
von starkem Packpapier. Einige Flaschen zu Insekten,
einige Schachten zur Ausbewahrung von Larven und
Schmetterlingen und eine Botanisirtrommel für die ge-
sammelten Pflanzen, das war feine ganze Equipirung.
Den Tag von Morgens sechs bis Abends neun Uhr
brachte Thomas auf feinem Schusterschemel zu — aber
in dem Moment, wo er Feierabend machte, eilte er
auch, das Abendbrod in der Hand oder in der Tasche,
in's Freie hinaus. So lange es einigermaßen hell war,
streifte er nach Beute umher, konnte er nichts mehr
fehen, so legte er sich im Schutze der ersten besten Hecke,
des ersten besten Baumes oder Strauches nieder und
schlief, bis der erste Morgenstrahl ihn weckte und ihm
erlaubte, seine Beschäftigung fortzusetzen. Passirte es
ihm, daß er sich an einem besonders interessanten Orte
verspätete, so verbarg er Flinte, Botanisirtrommel u.s.w.
in irgend einem Versteck und lief, nur feine Beute mit
sich nehmend, aus Leibeskräften, um Schlag sechs Uhr
bei der Arbeit zu sein. Seine Nachbarn pflegten zu
sagen: „Es müßte eine böse Nacht sein, die Edward in
seinem Hause zurückhalten sollte."
- Zuweilen, wenn er auf Moor und Haide von Regen-
güssen überfallen wurde, und die Pillenschachteln und
Papiersäcke, in denen er die erbeuteten Thiere aufbewahrte,
von der Nässe zerweichten, war er, wenn er ein Haus
erreichte, so bedeckt von allerlei Käsern und Gewürm,

Das Buch für Alle.
daß die Leute erschrocken vor ihm davon liefen. Man-
chesmal fand er auch kein anderes Lager, als irgend
ein Loch am Strande, in das er dann, mit den Beinen
voran, hinein kroch. Iltisse und Wiesel fchnobberten ihm,
während er schlief, nicht selten im Gesicht herum, oder
Ratten fraßen feine Taschen an, um sich ihres Inhalts
zu bemächtigen. Aber die Thiere waren nicht immer
unwillkommene Gäste — im Gegentheil kamen sie ihm
zuweilen sehr gelegen, denn sobald sie in erreichbarer
Nähe waren, mußten sie sich fangen, betrachten, wenn
nöthig tödten, ausstopsen und feiner Sammlung ein-
verleiben lassen. Mit Fledermäusen, Eulen und an-
deren Nachtvögeln war er auf's Innigste vertraut.
Edward hatte sein Bereich in drei Bezirke eingetheilt,
wovon der eine sechs englische Meilen am Strande abwärts,
der andere fünf englische Meilen aufwärts und der dritte
fünf Meilen landeinwärts umfaßte, und obgleich er jede
Nacht nur einen dieser Bezirke begehen konnte, so wurde
doch jeder wöchentlich zweimal besucht und die ausge-
worfenen Netze, die aufgestellten Fallen und Sprenkel
sorgfältig revidirt. Er gab sich dabei Mühe, den Thie-
ren, die feinem Wifsensdrange zum Opfer fielen, alle
unnöthigen Qualen zu ersparen, indem er sich des
Chloroforms bediente, das er immer bei sich trug.
Wurde er durch Sturm und Unwetter behindert,
hinaus zu gehen, so beschäftigte er sich damit, für seine
Sammlungen Küsten herzustellen, von denen er nach
und nach viele Hunderte anfertigte — aber sie konnten
seine Schätze nicht immer vor Schaden sichern. Nach-
dem er z. B. mit vieler Mühe mehr als taufend In-
fekten in solchen Kästen geordnet und sie auf dem Boden
des Hauses untergebracht, wurde die ganze Sammlung
von Ratten und Mäusen aufgefressen. Als seine Frau
die leeren Kästen sah, fragte sie, was er nun zu thun
gedenke? „Es ist freilich ein großes Mißgeschick," ent-
gegnete er, „aber ich glaube, es ist das Beste, von vorn
anzufangen." Und so that er. Im Jahre 1845 war
er Stande, in Banff eine Ausstellung seiner Naturalien-
sammlung zu veranstalten, deren Erfolg so günstig war,
daß Freunde ihm den Rath gaben, sie in Aberdeen zu
wiederholen. Aber dies Unternehmen, welches viele
Kosten und Mühe verursachte, erwies sich als ein durch-
aus verfehltes.
Obgleich die Sammlung von mehreren namhaften
Gelehrten besucht wurde, die nicht glauben wollten, daß
ein armer ungebildeter Mann, wie Edward, ganz allein
im Stande gewesen fein sollte, sie zusammen zu bringen,
Zog sie doch das große Publikum nicht an. Zu den
wenigen Besuchern der Sammlung gehörte unter An-
deren jene Dame, deren Fürbitte Edward in den Tagen
feiner militärischen Laufbahn so viel Zu danken gehabt
und die sich auch jetzt thätig feiner annahm. Sie ver-
suchte es, ihn in ihrem Hause mit wissenschaftlich ge-
bildeten Männern zusammen zu führen, aber feine
Schüchternheit, das Bewußtsein feines Mangels an Bil-
dung und feine trostlosen äußeren Verhältnisse hielten
ihn ab, die Einladung anzunehmen. Nach dem Miß-
erfolge der Ausstellung starrte ihm das nackte Elend
in's Gesicht. Schulden waren ihm von jeher das Ver-
haßteste gewesen. Er hatte sich bis dahin mit aller
Anstrengung frei davon gehalten — jetzt drohten sie
ihm über dem Kopfe zusammen zu schlagen. Außerdem
befand er sich in einer fremden Stadt, wo er Niemand
kannte — kein Wunder, daß er den Muth verlor und
nahe daran war, aller Sorge und Noth durch eine
rasche That ein Ende zu machen. Die ihn beherrschende
Leidenschaft allein wurde ihm zur Rettung.
Bereits hatte er Hut, Rock und Weste abgelegt, um
in die See zu springen, als sich ein Flug Regenpfeifer
auf dem Strande in feiner Nähe niederließ und feine
Aufmerksamkeit auf sich zog. Unter ihnen befand sich
ein Vogel, der größer und von dunklerer Farbe war
und sich in feinem ganzen Habitus von den übrigen
unterschied. Begierig, denselben genauer zu beobachten,
näherte sich Edward. Die Vögel flogen auf und ließen
sich in einiger Entfernung nieder. Er folgte ihnen, sie
flogen weiter, er ging ihnen abermals nach und erst als
die Mündung des Dee ihn aufhielt und die Vögel nach
dem jenseitigen Ufer flogen, kam er wieder zum Be-
wußtsein seiner selbst. Er hatte fein ganzes Elend in
dem innigen Interesse an der Natur vergessen.
Und mit den helleren, freudigeren Gedanken kam ihm
auch die alte Energie wieder. Er beschloß, feine ge-
liebte Sammlung zu opfern, bot sie zum Verkauf aus,
fand einen Käufer, bezahlte feine Schulden und kehrte
nach Banff zurück, um die Schuhmacherei und das
Sammeln von Neuem zu beginnen. Ziemlich unverän-
dert führte er das alte Leben weiter und hatte bis
zum Jahre 1850 eine neue Kollektion zusammen ge-
bracht, welche die frühere in mancher Beziehung noch
übertraf. Aber ein unglücklicher Fall von einer steilen
Klippe, der ihn mehrere Monate an's Bett fesselte,
Zwang ihn abermals, sich des größten Theiles derselben
zu entäußern.
Zum Glück machte er um diese Zeit die Bekannt-
schaft eines Geistlichen, der ihm wissenschaftliche Bücher
lieh und auch in anderer Weise feiner Bildung zu
Hilfe kam. Dadurch ermuthigt, fetzte Edward feine

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Forschungen und Beobachtungen mit womöglich noch
größerem Eifer fort und hatte bis zum Jahre 1858
abermals eine Sammlung von Naturalien zusammen
gebracht, die ungleich werthvoller war, als die beiden
früheren. Viele Jahre hatte ihn fein Mangel an
Kenntnissen gezwungen, die einzelnen Exemplare zu
Anderen zu schicken, um sie benennen und klafsisiziren
zu lassen, und nicht selten waren ihm dabei werthvolle
Sachen verloren gegangen. Jetzt lernte er auf eigenen
Füßen stehen, seine Kenntnisse erweiterten sich nach
jeder Richtung und obgleich er im Ganzen feiner alten
Lebensweise treu blieb, fing er doch an, einen Theil
seiner Zeit zur Aufzeichnung seiner Beobachtungen zu
verwenden. Naturwissenschaftliche Blätter öffneten ihm
ihre Spalten, und so wurde die Aufmerksamkeit der
Fachgelehrten auf ihn gelenkt.
Diese dritte, reichste Kollektion sollte ihm in einer
Zeit der Noth, die jetzt über ihn hereinbrach, zur Ret-
tung werden. Edward hatte seine Kinder, feinem Stande
angemessen, gut erzogen, hatte aber dabei nichts znrücklegen
können, und so wäre er, als er 1858 erkrankte, ohne
alle Hilfsmittel gewesen, wenn er seine Naturalien-
sammlung nicht besessen hätte. Schon oft hatte er an
Anfällen von Rheumatismus gelitten, sich aber dadurch
in seiner Lebensweise weder hindern noch stören lassen.
Jetzt schüttelte der Doktor indessen bedenklich den Kopf
und sagte ihm, daß seine Gesundheit durch die steten
Anstrengungen und die Einflüsse der Witterung, denen
er sich rücksichtslos ausgesetzt, ernstlich erschüttert sei
und daß er ihn, wenn er seine nächtlichen Wanderungen
nicht aufgäbe, als einen todten Mann betrachte.
Damit schien Edwards Bestrebungen ein- für alle-
mal ein Ziel gefetzt. Um den Arzt und die Rechnungen
zu bezahlen, die sich während seiner Krankheit aufge-
häuft, blieb ihm kein Mittel, als auch die dritte Samm-
lung wenigstens theilweise hinzugeben. Sie mußte zu
seiner tiefen Betrübniß den Weg gehen, welchen die
beiden ersten gegangen. Er verkaufte einige vierzig
Küsten mit ausgestopften Vögeln, etwa dreihundert Arten
von Moosen und Seegewächsen, sowie eine Menge an-
derer Objekte.
Nach diesem Verkauf verlor Edward Muth und
Hoffnung, feine zerstörte Sammlung je wieder zu er-
gänzen. Aber nach einiger Zeit kehrten seine Kräfte
bis zu einem gewissen Grade zurück, und es gelang ihm
nicht nur, die Lücken auszufüllen, sondern es eröffnete
sich ihm um diese Zeit ein neues Feld ehrenvoller Thä-
tigkeit. Er war mit den Naturforschern Bäte und
Westwood, welche sich soeben mit einer Abhandlung
über Scbalthiere beschäftigten, sowie mit dem bekannten
Zoologen Norman bekannt geworden. Diese Männer
forderten ihn auf, für ihre Zwecke thätig zu fein, und
fanden an ihm einen unschützbaren Mitarbeiter. Aller-
dings besaß er weder Scharrnetze noch andere Geräthe,
aber er untersuchte jeden Waffertümpel am Strande
und schickte feine Töchter Meilen weit, um den Schlamm
und Unrath zusammen zu holen, der in den Netzen und
an den Leinen der Fischer hängen geblieben war und
den sie für ihn aufhoben. Handelte es sich um die
Auffindung irgend eines besonders interessanten und
wünschenswerthen Objektes, so blieb gewiß keine Klippe,
kein Riff ununtersucht, wie ihm auch kein Bach zu tief
war, wenn er auf eine seltene Krabbe, einen seltenen
Fisch oder einen Fischparasiten Jagd machte. Die
Dienste, welche Edward der Wissenschaft auf diesem be-
sonderen Gebiet leistete, sind von den oben genannten
Männern in ihren Schriften voll anerkannt worden,
und einige Jahre später wurde ihm iu Folge dessen die
Ehre zu Theil, zum Mitglied der Linus-Gesellschaft und
mehrerer anderer gelehrten Gesellschaften in Schottland
ernannt zu werden.
Auch machte man verschiedene Versuche, einen Er-
werbszweig oder Posten für ihn zu finden, der ihm bei
sorgenfreierer Existenz mehr Zeit zu seiner Beschäftigung
mit der Natur gewährte. Er versuchte es mit der Photo-
graphie, man gab ihm die Stelle eines Schiffsvisitators
— nichts gelang. Die einzige mögliche Anerkennung
seiner Verdienste war und blieb die Stellung eines
Custoden am Alterthums-Mufeum in Banff, die er be-
kleidet und die ihm einen jährlichen Gehalt von vier
Psd. Sterl. (80 Mark) einträgt. Er empfängt den-
selben nicht umsonst, sondern hat sich bereits um die
Erhaltung von Alterthümern verdient gemacht, die ohne
ihn zu Grunde gegangen wären.
Im Ucbrigen sitzt der merkwürdige Mann — der,
wenn er eine genügende Schulbildung genossen und für
sein Streben zur rechten Zeit Unterstützung gesunden
Hütte, jetzt wahrscheinlich zu den wissenschaftlichen Cele-
britäten zählen würde — nach wie vor aus seinem
Schusterschemel und gewinnt mit Pechdraht und Ahle
das tägliche Brod für sich und die Seinigen. Seine
Schüchternheit und Bescheidenheit haben bis dahin ver-
hindert, daß er die ihm gebührende Anerkennung und
den Lohn für feine Verdienste fand; vielleicht gelingt
es dem Buche von Samuel Smiles, ihm zu seinem
Rechte zu verhelfen.
 
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