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434

„Nein, dies müssen Sie von mir annehmen," fuhr
Kurt fort. „Ich werde nicht vergessen, dem Medicinal-
rathe zu zeigen, zu welchem Dauke ich ihm verpflichtet
biu, weil er Ihnen die Behandlung meines Sohnes an-
vertraut hat."
„Herr Düringer, der Medieinalrath wird es Ihnen
wenig Dank wissen, daß Sie mich in solcher Weise ver-
wöhnen," rief Leonard heiter. „Sie glauben nicht, wie
hoch ich es schätze, daß Sie mir auch für späterhin den
Eintritt in Ihr Haus gestatten. Ich habe Ihren Sohn
wirklich lieb gewonnen und möchte ihn auch kennen ler-
nen, wenn er in voller Kraft der Gesundheit dasteht."
„Ich hosfe und wünsche, Sie werden Freunde
werden!"
„Täuscht mich mein eigener Wunsch nicht, so sind wir
es bereits."
Kurt hatte sich auf dem Sopha niedergelassen und
spielte, während er sich mit Leonard unterhielt, mit
einer aus dein Tische liegenden goldenen Uhrkette. Plötz-
lich zuckte er wie erschreckt zusammen, sein Ange blickte
starr aus einen halben Ning, der als Verlogne an der
Uhrkette hing.
„Woher haben Sie diesenNing?" fragte er fast hastig.
„Er ist die einzige Erbschaft meiner Mutter," gab
Leonard mit halb wehmüthigem Lächeln zur Antwort.
„Es wird noch eine andere Hälfte zu diesem Ringe
geben, und diese anfzufinden, ist schon Jahre lang mein
Streben gewesen, freilich ein erfolgloses. Dieser halbe Ring
ist mein Talisman, und ich glaube fest daran, daß er
mir einst Glück bringen wird. Ich habe ihn Jahre
lang an dieser Uhrkette getragen, ich hoffte durch ihn
die zweite Hälfte zu finden, da mir dies nicht gelungen
ist, trage ich diese Kette nicht mehr, um das mir theure
Andenken nicht zu verlieren."
Mit wachsender Spannung hatte Kurt ihm zugehört,
er athmete schneller und war kaum im Stande, zu ver-
bergen, wie heftig es in seiner Brust stürmte.
„Ich verstehe Sie nicht — erzählen Sie nur Ihr
Leben!" bat er.
Leonard schwieg einen Augenblick lang, er schien der
Bitte nicht gern nachzukommen, denn wie träumend
blickte er vor sich hin.
„Mein Leben!" wiederholte er. „Wo soll ich mit
meiner Erzählung beginnen, da die ersten Jahre meines
Lebens für mich selbst ein Räthsel sind? Doch ich will
Ihnen Alles erzählen. Ich weiß nicht, wer meine Eltern
waren. Gut wird es ihuen jedenfalls nicht ergangen
sein, denn meine Mutter hat mich, als ich kaum einige
Monate alt gewesen bin, dem Findelhause übergeben,
aber nicht mich allein, sondern wahrscheinlich auch einen
Zwillingsbruder von mir, wenigstens sind zu gleicher
Zeit zwei Kinder dein Findelhause übergeben worden,
von denen jedes an dünner Schnnr einen halben Ring
an dem Halse trug. Es kann auch eine andere Be-
wandtniß mit den Ringen haben. Ich erinnere mich,
einst gelesen zu haben, daß zwei Freundinnen, die beide
fast gleich alte Knaben besaßen und von der Roth bitter
heimgesucht wurden, den Entschluß faßten, ihre Kinder
dem Findelhause anzuvertrauen. Die Eine von ihnen
besaß einen dünnen Goldreif, das letzte Andenken an
einen Liebhaber, der sie längst verlassen hatte, diesen
Ring zerbrach sie und hing jedem der beiden Knaben
eine Hälfte um, damit sie, wenu sie sich später zufällig
im Leben begegneten, sich erkennen könnten, lind sie
begegneten sich auch, freilich erst nach langen Jahren, als
Beider Haare bereits zu bleichen aufiugcn. Den Einen
hatte das Glück auf seine Arme geuommeu und ihn
zum reichen Manne gemacht, während der Andere ein
armer Teufel geblieben war, für den das Leben, welches
ihm einst seine Mutter gegeben, ein sehr kärgliches Ge-
schenk geblieben war. Der Arme pochte nun als Bettler
an die Thüre des Reichen, der Zufall fügte es, daß sie
sich an den halben Ringen erkannten. Daß ihre Mütter
Freundinnen gewesen waren, wußten sie Beide, allein
sie wurden keine Freunde, sondern sogar erbitterte Feinde.
Der Bettler glaubte durch die Hälfte seines Ringes
die Berechtigung erworben zu haben, von dem Reichen
ernährt und gut verpflegt zu werden, dieser wollte die
Berechtigung nicht anerkennen, da er sehr geizig war und
auf die gleichzeitige Ablieferung im Findelhause uur eiu
sehr geringes Gewicht legte. Er wollte den Bettler mit
einem alten Kleidungsstücke und wenigen Groschen ab-
finden, deren Annahme verweigert wurde, sie schieden
als Feinde von einander. Der Bettler lauerte nun dem
Reichen wenige Tage später im Walde auf lind erschlug
ihn, wofür er selbst lebenslängliche freie Kost und Woh-
nung im Zuchthause erhielt. Diese Geschichte ist zwar
nur ein Roman, allein ich sehe nicht ein, weshalb sie
nicht anch Wahrheit sein könnte. Möglicher Weise hat
dieser halbe Ning eine ähnliche Entstehung, für mich
soll aber der Roman eine gute Lehre enthalten, wenu
ich je die andere Hälfte finde. Ist der Besitzer der-
selben arm, so werde ich mich seiner annehmen, und ist
er reich, so werde ich nicht bei ihm betteln."
Kurt hatte auf die Erzählung des Romans kaum
gehört, ganz andere Gedanken beschäftigten ihn.
„Wie lange sind Sie in dem Findelhanse gewesen?"
fragte er.

Das Buch für Alle.

„Bier bis fünf Jahre, dann nahm mich ein Lehrer,
dessen Namen ich trage und dem ich so viel verdanke,
wie nur ein Kind seinen Eltern: verdanken kann, zu sich
und ai: Kindesstatt an, da ihn: selbst keine Kinder be-
schieden waren. Meine Jugend war eine glückliche, denn
ich fand bei meinen neuen Eltern Liebe, die ich früher nie
kennen gelernt hatte, und kein Herz sehnt sich mehr nach
Liebe, als das Kindesherz. Meine Adoptiveltern lebten sehr
eiugezogen und beschränkt, da mein Vater nur eine kleine
Stelle besaß, allein ich habe dies nie empfunden. Er-
hielt ich auch manchen Abend nicht mehr als ein trockenes
iMück Brod, was fragt ein Junge darnach, zumal da
meine Eltern selbst nicht mehr besaßen und den letzten
Bissen mit mir theilten. Ich will es mir nicht zum
Ruhme aurechnen, allein ich habe nie meine reicheren
Spielgenossen und Schulkameraden beneidet, obschon sie
besser gekleidet waren und an manchem Bergnügen Theil
nahmen, das ich mir versagen mußte. Ich empfing
dafür von meinen Eltern: einen Schatz, den ich nicht
hoch genug anschlagen kann, sie hielten mich von Jugend
auf zier strengsten Wahrheitsliebe und Rechtschaffenheit
an. — Nur einmal habe ich die Armuth meiner Eltern
schwer empfunden. Ich machte in der Schule gute Fort-
schritte und war schon mit vierzehn Jahren in einer der
oberen Klassen des Gymnasiums. Ich hegte den sehn-
lichsten Wunsch, zu studiren, ja, dieser Wunsch hatte sich
bei mir zur festen Idee, ausgebildet, ohne daß ich mich
je gefragt hatte, ob meine Eltern mir auch die Mittel
zu dem Studium würden geben können, ich hatte dar-
über nie ernstlich nachgedacht. Da theilte mir mein
Vater, der sehr kränklich war, eines Tages mit, daß
ich nicht studiren könne, weil er zu arm sei.
Wollte ich Dir auch gern jedes Opfer bringen/
fügte er hinzu, ,sv weiß ich doch, daß ich nur noch kurze
Zeit leben werde, und nach meinem Tode stehst Du ohne
alle Mittel da. Es ist deshalb nothwendig, daß Du
einen Berus ergreifst, der Dich frühzeitig selbstständig
macht und ernährt/
„Diese Worte trafen mich hart, unsagbar hart. Ich
fühle heute noch, wie sich meine Brust krampfhaft zu-
sammenzog. Ich mußte meinem Vater Recht geben,
ich wußte ja, daß er Alles für mich hingegeben haben
würde, allein ich konnte dem Wunsche, der sich in mir
so fest eingewurzelt hatte, nicht entsagen. Vor mir lag
die Zukunft, in die ich mit so viel Hoffnung und mit
so stolzen Träumen geblickt hatte, wie eine trostlose
Wüste, und ich war noch zu sehr Kind, als daß mein
Verstand mir beim Entsagen Beistand geleistet hätte.
Meine Eltern sind längst Beide todt, ihr Andenken
ist mir das Heiligste, was ich besitze, und bei diesen:
Andenken kann ich versichern, daß nicht der leiseste
Vorwurf gegen sie in mir auftauchte, aber doch legte
es sich wie eine stille Trauer auf mich, meine Heiter-
keit schwand, ich kränkelte und wurde ernstlich krank.
Meine Eltern riesen den Medieinalrath Brommig und
er wurde für mich eiu zweiter Vater. Sic theilten ihm
mit, was nach ihrer Ueberzeugnng der Grund meiner
Krankheit war, und worin sie in der That nicht irrten;
sie sagten ihm, daß ich den: einmal gefaßten Wunsche
nicht entsagen könne, er erkundigte sich bei meinen -Leh-
rern, dann theilte er meinen Eltern und mir mit, daß
er die Mittel zu meinen: Studium hergeben wolle. Noch
heute kann ich mich an das Gefühl, welches ich damals
empfand, deutlich erinnern. Ich Hütte laut anfjauchzen
mögen, und nie in meinem Leben habe ich eine folche
Freude wieder empfunden. Ich weinte so laut, daß
meine Mutter mich kaum beruhigen konnte, dann wurde
ich still und tränmte von einer glücklichen Zukunft.
Der Medieinalrath halte mir durch sein Versprechen ein
Mittel gegeben, welches mich schnell genesen ließ.
„Wie viel ich diesen: edlen Manne verdanke, vermag
ich Ihnen nicht zu sagen, er hat mich, bis ich ausstudirt
hatte, nicht allein vollständig unterhalten, sondern mir
sogar mehr gegeben, als ich bedurfte. Ich strengte nun
alle meine Kräfte an, um mich durch Fleiß seiner Güte
würdig zu machen. Mit sechzehn Jahren bezog ich die
Universität und mit zwanzig Jahren hatte ich mein
Studium beendet. Ein Jahr lang ließ mein väterlicher
Freund mich reisen, nm die Krankenhäuser der größten
Städte kennen zu lernen, daun nah::: er mich als Assistenz-
arzt an. Deshalb bin ich glücklich, wenn ich ihn: irgend
eine Mühe oder einen Weg abnehmen kann, denn mei-
nen Dank kann ich ja doch nie abtragen. Ohne ihn
wäre ich heute wahrscheinlich eiu unglücklicher Mensch."
„Ich habe den Medieinalrath stets für einen edlen
Charakter gehalten," bemerkte Düringer.
„Ja, das ist er!" ries Leonard begeistert. „Was
er an nur gethan, hat er noch Niemand erzählt. Er
hat sogar meine Eltern unterstützt, als er erfuhr, daß
sie sich manche Beschänknngen aufcrlegen mußten."
„Ihre Eltern sind todt?" fragte Kurt.
„Ja. Das Geschick hat mir die Freude nicht ge-
gönnt, ihnen auch nur einen geringen Theil ihrer Güte
vergelten zu können. Mein Vater starb, als ich kaum
die Universität besucht hatte, meine Mutter folgte ihn:
ein Jahr später. Die beiden Menschen hatten zu glück-
lich mit einander gelebt, als daß der Eine das Leben
ohne den Anderen ertragen konnte. Ehe mein Vater

_ Heft 19
starb, theilte er nur nut, daß ich nicht sein Kind war
und gab nur diesen halben Ring."
-„Haben Sie nie in den: Findelhouse selbst in Be-
treff des Ringes nachgeforscht?"
„Doch, als ich auch meine Mutter verloren hatte
und ganz allein dastand, habe ich nachgeforscht, ohne in-
dessen irgend Etwas zu erfahren. Diejenigen, die vor
zwanzig Jahren den: Findelhaufe Vorständen, find
sämmtlich todt, der Direktor wie die Wärter."
„Wer Ihre Eltern waren, haben Sie nie erfahren?"
„Nein, nnd ich möchte es auch nicht erfahren.
Wenn sie noch an: Leben sind und ich sie wirklich fände,
so könnte ich ihnen doch nicht die Liebe entgegenbringen,
die mich an meine zweiten Eltern fesselte; ihnen würde
eine Täuschung widerfahren und mir auch."
„Sie haben Recht," fiel Kurt ein. „Es würde viel-
leicht der Frieden Ihres ganzen Lebens dadurch gestört.
Lassen Sie das Räthsel, welches über Ihrer Geburt
schwebt, ungelöst, zumal da Sie allen Grund haben,
mit der Gestaltung Ihres Lebens zufrieden zu sein."
„Ich bin zufrieden, denn ich fühle mich in meinem
Berufe glücklich," versicherte Leonard.
„Und derselbe wird Ihnen Alles gewähren, was Sie
wünschen. Ich würde nicht einmal nach der anderen
Hälfte des Ringes forschen, denn sie kann Ihnen nicht
mehr bringen, als Sie bereits besitzen, sie kann Ihnen
nur Etwas rauben."
Leonard schwieg. Er hatte den Ring in die Hand
genommen und ließ das Auge darauf ruhen.
„Sie mögen vielleicht Recht haben," entgegnete er
dann langsam. „Sehen Sie, was mich den Ring als
meinen Talisman betrachten läßt, ist der Gedanke, daß
meine Mutter vielleicht einen Kuß darauf gedrückt hat,
ehe sie ihn nur umhing. Sie hat sicherttch auch den
Wunsch hinzugefügt, daß es nur gut gehen möge, und
der Wunsch einer Mutter bringt Glück."
„Hat er Ihnen nicht bereits Glück gebracht?"
„Ja, ja! Wenn ich zurückschaue in meine Vergangenheit,
so möchte ich nichts anders wünschen, als es gewesen
ist. Nur Diejenigen, von denen ich so viele Liebe ge-
nossen habe, wünschte ich noch am Leben."
Düringer schwieg, sein Auge ruhte wieder prüfend
ans dem Ringe. Wie unendlich viel hing von diesem
kleinen, zerbrochenen Goldreifen ab! Konnte durch ihn
nicht Leonard's ganzes Leben anders gestaltet werden!
Er erhob sich schnell, um heimzukehren, weil er suhlte,
daß diese Gedanken zu viel Macht über ihn gewannen,
und er durfte nicht verrathen, was in ihn: vorging.
„Nun vergessen Sie nicht, daß wir Alle Sie als
unseren Freund betrachten," sprach er, den: jungen Arzte
die Hand reichend. „Haben Sie dann und wann eine
Stunde sür uns übrig, so wissen Sie, wie willkommen
Sie sind, nnd wenn es Ihnen Vergnügen macht, des
Morgens mit uns spazieren zu reiten, so steht stets ein
Pferd für Sie bereit. Hoffentlich kann auch mein Sohn
bald wieder reiten."
„Bei der Pflege, die er genießt, werden seine Kräfte
bald wiederkehren," versicherte Leonard. „Ihr Anerbieten
nehme ich an, denn der Braune des Medicinalraths
kann nicht mehr daraus Anspruch machen, daß es ein
Vergnügen sei, ans seinen: Rücken zu sitzen."
Düringer kehrte heim, das Herz war ihn: voll und
schwer, es war ihn:, als ob eine Last auf ihn: ruhte,
die er uicht abwülzen konnte. Er begab sich sofort aus
sein Zimmer und schloß die Thüre hinter sich. Aus
einem Kästchen seines Schreibtisches nahm er einen
kleinen, sorgfältig in Papier gewickelten Gegenstand, es
war ein Halder Ring. Seit Jahren hatte er denselben
nicht in Händen gehabt. Er verglich ihn sorgfältig mit
den: Ringe Leonard's, dessen Einzelheiten er sich genau
eingeprägt hatte, nnd er konnte nicht mehr in: Zweifel
fein, daß beide Hälften zusammen gehörten.
Den Kopf auf die Hand stützend, blickte er starr
vor sich hin, unzweifelhaft stand es in ihn: fest, daß
Leonard Alberts Bruder war. Er war wie Albert in
frühester Jugend in den: Findelhause abgeliefert, er war
so alt wie Albert, auch er hatte den halben Ring an
einer Schnnr um den Hals getragen — Beide waren
Zwillingsbrüder. Und als diese Gewißheit in ihn: anf-
gestiegen war, da glaubte er auch in den Zügen Beider
eine gewisse Aehnlichkeit zu finden, obschon Albert größer
und kräftiger und anch hübscher war.
Er athmete tief und bange auf, den:: welche unheil-
vollen Entwickelungen konnten aus dieser Entdeckung
eirtstehen. Er hatte Leonard gern, würde ihn mit Freuden
als Alberts Bruder begrüßt haben, aber konnten sie
nicht an den Ringen von ihren Eltern erkannt werden,
wenn dieselben noch lebten? Wer waren diese Eltern?
Sie waren vielleicht körperlich und geistig verkommen,
sie machten vielleicht gar noch Anspruch auf Albert,
und wenn sie es nicht thaten, mußte es ihn nicht tief
erschüttern, wenn er die, deren Blut in seinen Adern
floß, nicht wie seine Eltern lieben konnte?
Albert hatte von den: Ringe keine Ahnnng nnd auch
Leone schien denselben längst vergessen zu haben. Er
war überzeugt, daß sie ihn nicht wieder erkennen werde,
selbst wenn sie ihn bei Leonard bemerkte.
Lange Zeit rang er schwer mit sich, dann gelangte
 
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