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530

„Ja, cr wird vergessen lernen, aber nicht ohne Kampf,
den ich ihn: gerne erspart hätte," fuhr die Mutter fort.
„Wer in meinen Jahren steht, weiß ja, wie viel der
Mensch überwinden und vergessen kann. Man lernt sich
fügen in das, was nicht zu ändern ist."
„Mutter," rief Käthe, „ich würde Deinen Wunsch
erfüllt und Streben meine Hand gereicht haben, wenn
nicht..."
„Laß, Kind," unterbrach sie Christine, um einem
Geständnisse zuvor zu kommen. „Das mußt Du mit
Deinem Herzen ausmachen."
Sie wollte sich erheben, allein sie war so sehr er-
regt, daß sie kraftlos zurücksank.
Erschreckt sprang Küthe ihr zu Hilfe; die blassen
Wangen der Mutter fielen ihr auf.
„Du bist krank!" rief sie.
„Nein, ich fühle mich nur sehr angegriffen."
„Ich werde einen Voten zur Stadt schicken, um den
Arzt holen zu lassen."
„Nein, Kind, das ist nicht nöthig. Es würde viel-
leicht auch vergeblich sein, denn der Medicinalrath ist
krank und der Doktor Leonard würde gewiß nur sehr
ungern kommen."
„Weshalb ungern?" warf Käthe ein.
„Er hat sich gestern verlobt und — und wird Wohl
jede freie Stunde bei seiner Braut zubringen."
Christine fühlte, wie Küthe bei diesen Worten schmerz-
lich zusammenzuckte.
Des Mädchens Brust rang nach Athen:.
„Woher weißt Du dies?" fragte sie endlich mit
stockender Stimme.
„Der Herr, welcher vorhin hier war, hat es nur
erzählt."
Käthe antwortete nicht, regungslos stand sie da,
dann eilte sie fort in das Haus und auf ihr Zimmer.
Schmerzlich bewegt blickte Christine ihr nach. Wie
schwer das eine Wort sie getroffen! Sie hatte nicht ein-
mal gefragt, mit wen: er sich verlobt habe, es schien
ihr gleichgiltig zu sein, da er für sie verloren war.
Christine empfand doch ein Gefühl der Rene. Konnte
sie ermessen, wie lange der Schmerz in der Brust ihres
Kindes nachhallte? Sie hatte Wohl gesagt, daß das Herz
viel ertragen und vergessen könne, nun dieser Kampf in-
dessen an ihre eigene Tochter herantrat, empfand sie ihn
mit. Wußte sie doch, daß jede verlorene Liebe ein Stück
von dem Herzen losreißt, welches nie wieder zu er-
setzen ist. —
Zwanzigstes Kapitel.
Neue Kämpfe.
Leonard hatte von dein, was Käthens Herz so sehr-
erregte, keine Ahnung. Der Medicinalrath war schwächer
und schwächer geworden, sein Zustand war sogar be-
denklich, und er wandte jede freie Stunde an, um den
väterlichen Freund, dem er so viel verdankte, zu unter-
stützen und zu Pflegen.
Selbst zn Düringer kan: er nur selten und stets nur
auf wenige Minuten. Zu einem Ritte nach der Wasser-
mühle fehlte ihm die Zeit, zumal seine Hilfe dort nicht
in Anspruch genommen wurde.
So verginge:: Wochen, in denen er nicht ein ein-
ziges Mal zur Wassermühle gekommen war, gewann er
doch kaum eiuen flüchtigen Augenblick Zeit, um das
goldene Kreuz, welches er einst aus Käthe's Hand er-
halten hatte, zu betrachten.
Düringer war einige Male auf der Wassermühle
gewesen, ohne Käthe ein einziges Mal zu sehen. Von
ihrer Mutter erfuhr er, einen wie schweren Kanipf das
Mädchen zu bestehen hatte. Sie hatte Leonards Namen
nicht wieder erwähnt und nicht einmal gefragt, mit
wem er verlobt sei. Sie war meistens allein, und wenn
sie mit ihren Geschwistern zusammenkam, zwang sie sich,
heiter zu sein, obschon ihre blassen Wangen nur zu
deutlich verriethen, daß sie nicht heiter war.
Sie bot Alles aus, um Niemand in ihr Herz blicken
zu lassen, und als sie eines Tages unerwartet erkrankte,
sträubte sie sich mit aller Kraft dagegen, daß ein Arzt
geholt werde. Sie befürchtete, daß Leonard kommen
werde und sie war noch nicht ruhig genug, um ihn
Wiedersehen zu können. Sie schien sich bald wieder zu
erholen, wenigstens versicherte sie ihrer Mutter, daß sie
sich Wohl fühle.
Da las Düringer eines Morgens in der Zeitung
die Verlobungsanzeige Käthe's mit den: Gutsbesitzer
Streben. Er war darüber erfreut uud doch durchzuckte
es ihu schmerzlich, als er daran dachte, daß zwei Herzen,
die einander so innig liebten, durch das Geschick uner-
bittlich aus einander gerissen wurden.
Was mußte Leonard empfinden, wenn er diese An-
zeige las? Konnte er durch seine:: leicht erregbaren Sinn
sich nicht zu einer Thorheit verleiten lassen?
Die Besorgniß um den jungen Mann, den er so lieb
gewonnen hatte, trieb ihn zu ihm. Er traf ihn in
seinem Zimmer am Schreibtische sitzend; auf demselben
lag die Zeitung. Daß er die Verlobungsanzeige gelesen
hatte, verrieth die auffallende Blässe seiner Wangen.
Gewaltsam schien er bei Düringer's Eintreten sich zu-
sammenzurafsen.

Das Buch für Alle.
„Ah, Herr Düringer!" rief Leonard aufspringend
und ihm entgegen tretend. „Wie herrlich, daß ich Sie
einmal bei nur sehe."
„Sie machen sich so selten, daß ich Sie aufsuchen
muß, damit wir von Ihnen nicht ganz vergessen wer-
den," entgegnete Kurt.
„Halten Sie das für möglich?" fuhr Leonard fort.
„Ich habe ein Gedächtniß, welches nur zu fest Alles
aufbewahrt, es wäre vielleicht besser für mich, wenn ich
auch die Kunst des Vergessens gelernt hätte. Sie wissen
übrigens, was mich jetzt so sehr in Anspruch nimmt.
Der Medicinalrath hat den ersten Anspruch auf mich."
„Wie geht es ihm?"
„Schlecht — schlecht."
„Ist Gefahr für ihu vorhanden?"
„Ja. Ich niag nach dem Gedanken, ihn zu ver-
lieren, nicht hingeben und doch kann ich keine Hoffnung
mehr hegen."
„Kennt er die Gefahr, die ihm droht, selbst?" fragte
Düringer.
„Gewiß, denn er ist ein zu tüchtiger Arzt, um sich
zu täuschen."
„Und wie sieht er dem Tode entgegen?"
„Wie ein Philosoph und Weiser. Er weiß, daß der
Tod eine Nothwendigkeit der Natur ist, der Niemand
ausweichen kann. Er sieht selbst dem eigenen Tode
nut objektiver Ruhe entgegen, denn er macht noch wissen-
schaftliche Beobachtungen über seinen eigenen Zustand
und theilt mir dieselben mit."
„Er kann aus sein Leben mit Befriedigung zurück-
blicken," bemerkte Düringer.
„Ja, mehr als irgend ein anderer Mensch. Ich kenne
ihn Wohl an: genauesten und werde nie aufhören, :hn
zu bewuuderu, dem: ein so tiefes, reiches und weiches
Herz, wie er besitzt, habe ich nie kennen gelernt. Er-
zeigte dies nie offen, sondern suchte es häufig unter
einer änßeren schroffen Schale zu verbergen, denn er that
das Gute stets um seiner selbst willen. Wenn er stirbt,
dann werden Hunderte von Armen, denen er nicht allein
in Krankheiten beigestanden, sondern die er auch seit
Jahren im Stillen unterstützt hat, ihn beweinen."
„Kann er einen schöneren Lohn verlangen?" warf
Düringer ein.
„Er wünscht keinen anderen."
„Mich führt heute eine Bitte zu Ihnen," fuhr Dü-
ringer fort. „Ich werde heute Nachmittag nut den
Meinigen einen Ausflug machen, bitte, nehmen Sie
daran Theil."
„Nein, nein, das ist nur unmöglich!" fiel Leonard
hastig ein.
„Sollten Sie sich nicht für wenige Stunden frei
machen können," bemerkte Kurt. „Auch Sie bedürfe::
der Erholung."
„Der Erholung!" wiederholte Leonard mit bitterem
Lächeln. „Ich werde sie am besten finden, wenn ich von
einem Kranken zum anderen eile. Wenn Einem immer
und immer nur das Leid anderer Menschen entgegentritt,
dann denkt man an sich selbst am wenigsten."
„Das ist keine Erholung, sondern nur eine Be-
täubung."
„Und wenn sie nun das beste Mittel ist? Sehen Sie,
die Menschen nennen den einen Thor, der sich eiuen
Rausch trinkt, um ein Leid zu vergessen, ich sage, er-
handelt klug, denn er erreicht wenigstens für kurze Zeit,
was er sonst nicht erreichen kann."
Düringer erfaßte theilnehmend die Hand des jungen
Arztes.
„Sie sind tief verstimmt, Ihnen ist ein Leid wider-
fahren?" sprach er.
„Haha! Nein, nein!" lachte Leonard bitter aus.
„Ich habe nur eiue Täuschung erfahren, das ist Alles.
Die Schuld trifft indessen mich selbst, weil ich thöricht
genug war, eine Hoffnung in nur groß zu ziehen uud
zu Pflegen. Was berechtigt uns denn zu Hoffnungen?
Nichts. Wir handeln ebenso thöricht wie ein Kind,
welches die Hand nach einem Bilde im Spiegel ausstreckt!"
„Möchten Sie ohne Hoffnung in die Zukunft
blicken?"
„Ich thue es."
„Dann würde das Leben keinen Werth mehr für Sie
besitzen."
„Glauben Sie, daß ich auf mein Leben einen großen
Werth lege?" warf Leonard ein.
„Begleiten Sie uns, wir werden Alles aufbieten,
Sie heiter zu stimmen," fuhr Düringer fort.
Leonard schüttelte ablehnend nut den: Kopfe.
„Wäre ich ein Egoist, so würde ich Ihre Einladung
annehmen," entgegnete er. „Ich würde mir sagen, daß
es Ihnen vielleicht gelingen würde, mich aufzuheitern,
allein die Wahrscheinlichkeit, daß ich Ihre Heiterkeit
stören werde, ist viel größer."
„Versuchen Sie es," fiel Düringer ein.
„Erlassen Sie es mir heute. Es kommt noch ein
anderer Grund für mich hinzu. Der Medicinalrath er-
fordert meine ganze Pflege, er ist so schwach, daß ich
jederzeit das Schlimmste befürchten muß, uud ich würde
es mir w - vergeben, wenn dies einträte, während ich an
einen: Vergnügen Theil nehme."

Htst 23.
Düringer drang nicht weiter in ihn. Käthe hatte
doch in dem Herzen des jungen Arztes bereits einen
tieferen Platz eingenommen, als er selbst geglaubt. Das
ließ sich freilich nicht so leicht und schnell überwinden,
und doch mnßte dies geschehen.
„Welche Täuschung Ihnen auch widerfahren sein
wag," sprach er, als er Leonard die Hand zum Ab-
schiede reichte, „glauben Sie mir, der Mensch überwindet
und vergißt viel."
„Haha! Er überwindet Alles!" entgegnete Leonard
mit schmerzlichen: Lächeln. „Ich müßte nicht ein Arzt
sein, um das nicht zu begreifen, an vernichteten Hoff-
nungen stirbt Niemand, es gibt aber Menschen, die das
Hoffen verlernen."
Düringer unternahm an: Nachmittage mit den Seinigen
den. beabsichtigten Ausflug nach einen: mehrere Stunden
entfernten Dorfe. Am anderen Morgen wurde er durch
die Nachricht schmerzlich berührt, daß der Medicinalrath
während der Nacht gestorben sei. Leonards Befürchtung
war eingetroffen, es war ihm jetzt lieb, daß derselbe
durch ihn nicht abgehalten worden war, seinem väterlichen
Freunde und Wohlthäter die letzten Stunden zn widmen.
Zugleich mußte Leonard durch den Tod des Medicinal-
raths von den: Schmerze, der seinem Herzen widerfahren
war, abgezogen werden, denn eine Fülle anderer Sorgen
und Pflichten trat jetzt an ihn heran.
Und Leonard vermochte in den nächsten Tagen wirk-
lich kann: an die Hoffnung, die er zu Grabe getragen,
zu denken, ihm allein lag die ganze Sorge der Beer-
digung anheim, und die ganze Praxis des Medicinalraths
war auf ihn übergegangen, da er sich längst das all-
gemeinste Vertrauen erworben hatte.
Bei Düringer sprach er nur für Augenblicke vor.
Der Kampf mit seinen: Herzen sollte ihm indessen
nicht zu leicht werden. Nach wenigen Tagen kam eines
Morgens sehr zeitig Philipp, um ihn zu seiner Mutter
zu holen, die während der Nacht erkrankt war.
Unwillkürlich zuckte er bei dem Gedanken, Käthe
wieder zu sehen, zusammen. Besaß er die Kraft dazu?
„Meine Mutter weiß nicht, daß ich zur Stadt ge-
ritten bin, um Sie zu holen," sprach Philipp. „Sie
würde es wahrscheinlich nicht gestattet haben, denn um
uns eine Besorgniß zu ersparen, stellt sie sich stärker,
als sie ist. Aber schon seit einiger Zeit ist sie sehr an-
gegriffen und bleich, daß wir mit Angst erfüllt sind."
„Klagt sie über Schmerzen?" fragte Leonard.
„Nein, sie sagt kein Wort der Klage und doch bin
ich fest überzeugt, daß sie Schmerzen empfindet," ent-
gegnete Philipp.
„Woraus schließe:: Sie dies?"
„Sie fiel in der vergangenen Nacht wiederholt in
Ohnmacht, sie sprach nicht uud antwortete auf alle unsere
Fragen mit Kopfschütteln. Ist es Ihnen nicht möglich,
meine Mutter heute Morgen noch zu besuchen?"
Leonard zögerte einen Augenblick mit der Antwort.
Dnrfte er die erbetene Hilfe verweigern? Hatte er denn
ein Anrecht auf Küthe gehabt, da er ihr nie seine Liebe
gestanden? Er hatte aus ihrem Auge zu lesen geglaubt,
daß sie ihm gut sei, durfte er ihr eiuen Vorwurf machen,
wenn er ihren Blick falsch gedeutet?
„Ich werde kommen," sprach er endlich. „Reiten
Sie zurück und erwarten Sie mich in kurzer Zeit."
„Können wir nicht zusammen reiten?" warf Philipp
ein, der besorgt war, daß Leonard zu lange zögern
könne.
„Ich muß hier erst noch einen kurzen Besuch machen,
daun folge ich Ihnen. Es ist gut, wenn Sie so bald
wie möglich wieder bei Ihrer M'ulter sind."
„Sie sind besorgt, Herr Doktor?" rief Philipp.
„Nein, denn ich kenne den Zustand Ihrer Mutter
noch nicht, ich dachte nur daran, daß Ihre Schwestern
allein sind."
Philipp kehrte heim.
Leonard zögerte absichtlich noch kurze Zeit, er hatte
die sofortige Begleitung abgelehnt, um allein zur Wasser-
mühle reiten zn können. Es stürmte so gewaltig in
ihm, daß er Zeit nöthig hatte, um diesen Sturm zu
beruhigen und sich die erforderliche Ruhe und Kraft zu
erringe::.
Daun ritt er fort, schlug indessen einen kleinen Um-
weg ein, um nut Philipp nicht zusammen zu treffen.
Schneller als gewöhnlich ließ er sein Pferd laufen,
denn es war ihn:, als ob er selbst ruhiger dadurch
werde.
Fast gleichzeitig traf er mit Philipp auf der Wasser-
mühle ein und begab sich ohne Zögern in das Zimmer,
in den: Christine sich befand.
Als er eintrat, blieb er fast erschreckt stehen, denn
an dem Bette der Kranken saß Käthe. Kaum hatte sie
ihn erblickt, als sie mit halb unterdrückten: leisem Auf-
schrei aufsprang und durch eiue audere Thüre aus den:
Zimmer eilte.
Was bedeutete dieser Aufschrei, fühlte sie doch, daß
sie den: jungen Arzte eiue bittere Täuschung bereitet
hatte? Leonard hatte nicht Zeit, hierüber nachzusinnen,
denn die Kranke hielt den Blick auf ihn gerichtet. Er
trat zu ihr.
„Wie geht es Ihnen?" fragte er nut seiner ruhigen,
 
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