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Heft 23.
weichen Stimme, die auf jeden Kranken so zuversichtlich
und tröstend wirkte.
Christine war nicht im Stande, zu antworten. Es
war ihr Sohn, der an ihrem Bette stand, sie hätte seine
Hand erfassen und leidenschaftlich an ihre Lippen pressen
mögen. Ihr Auge glitt über sein Gesicht hin, wie blaß
dasselbe war!
Hatte dies Käthe's Verlobungsanzeige hervorgerufen?
Sie selbst hatte ihren beiden Kindern ein so schweres
Leid bereitet, und doch hatte sie es thun müssen. Dieser
Schmerz und die Aufregung der letzten Zeit hatte sie
auf das Krankenlager geworfen.
Leonard erfaßte ihre Hand, um den Puls zu unter-
suchen, die Hand zuckte bei seiner Berührung, ihr Blut
floß aufgeregt, schnell, fieberhaft.
„Sie fiebern," bemerkte der junge Arzt.
Christine schüttelte verneinend mit dem Kopse.
„Ihr Puls verrüth es nur," fuhr Leonard fort.
„Empfinden Sie Schmerzen?"
„Nein," entgegnete Christine, die Worte mit Mühe
hervorbringend. „Ich fühle mich nur sehr matt und
abgespannt."
„Sie sind sehr erregt, Ihnen thut die größte Ruhe
noth."
Christine nickte zustimmend. Aber wie sollte sie
Ruhe finden! Alles, was auf sie einstürmte, mußte sic
allein tragen. Sie hatte gewünscht, daß Käthe sich mit
Streben verlobe, es war geschehen, halb gleichgiltig gegen
ihr Leben und ihre Zukunft hatte Küthe endlich Streben's
Bitten nachgegeben, und doch wünschte sie jetzt fast, daß
es nicht geschehen wäre, denn sie befürchtete, daß Käthe
nicht glücklich werde, obschon ihr Verlobter Alles aufbvt,
ihre Liebe zu erwerben.
Leonard hatte sich neben dem Bette niedergelassen.
Wenn er gewußt hätte, daß er an den: Bette seiner
Mutter saß!
„Sie haben auch einen schweren Verlust gehabt,"
sprach Christine endlich.
Leonard zuckte zusammen, er hatte an Käthe und
den Verlust seiner Liebe gedacht, erst dann fiel es ihm
ein, daß die Kranke von dem Tode des Medicinalraths
sprach.
„Ich war längst darauf vorbereilet," entgegnete er.
„Es kehlt mir freilich der treueste und vertrauteste
Freund, dem ich so unendlich viel verdanke — das Un-
abänderliche muß man tragen. Der Tod ist nicht das
Schlimmste, es gibt Schmerzen, welche länger währen
als die, welche wir um einen Geschiedenen empfinden."
Christine schwieg, sie verstand ihn, ohne daß er dies
ahnte.
„Es freut mich wenigstens, daß bei Ihnen das Glück
eingekehrt ist," fuhr Leonard fort, im zu verbergen,
was in ihm vorging.
„Das Glück?" wiederholte Christine, nur daran
denkend, wie viel Aufregendes sie in der letzten Zeit er-
lebt hatte.
„Nennen Sie das nicht ein Glück, daß Ihre Tochter
sich verlobt hat?"
„Dock, doch!" versicherte die Kranke; sie wagte aber
nicht, ihren Sohn bei den Worten anzublicken. „Käthens
Verlobter ist ein guter und edler Mensch," fuhr sie fort.
„Ich habe die feste Zuversicht, daß sie mit ihn: glücklich
werden wird."
„Ich wünsche es ihr. Sie liebt ihn?"
Christine Zitterte bei dieser Frage.
„Sie liebt ihn, würde sie sich sonst mit ihm verlobt
haben?" gab sie zur Antwort.
Wie schwer ihr diese Worte wurden! Sie wußte, daß
dieselben schmerzlich in das Herz ihres Sohnes ein-
schnitten, und doch konnte sie ihn: diese:: Schmerz nicht
ersparen.
Leonard erhob sich. Der letzte schwache Hoffnungs-
schimmer, daß Küthe ihr Herz nicht freiwillig verschenkt
habe, war geschwunden. Sie liebte ihren Verlobten,
also hatte ihr Herz nie für ihn geschlagen. Er glaubte
turch Christinens Worte ruhiger geworden zu sein und
doch war das, was er für Ruhe hielt, nur das Gefühl
der inneren Leere und Oede. Er hatte in feinen Träu-
men feine ganze Zukunft auf dieser Liebe aufgebaut,
nun sie ihn: genommen war, war ihm nichts geblieben.
„Ich kann Ihnen nur die größte Ruhe empfehlen,"
sprach er. „Vermeiden Sie Alles, was Sie aufregt.
Ihre Nerven sind sehr erregt, seien Sie so viel wie
möglich im Freien, die Luft hier auf der Wassermühle
ist gut und rein, sie wird Sie stärken."
„Und doch kommen Sie so selten hieher," entgegnete
Christine. „Auch Sie sind sehr angegriffen."
„Was thut das?" warf Leonard ein. „Ein Arzt
hat nicht Zeit, an sich zu denken."
„Sie thun Unrecht, daß Sie nicht auch an sich
denken."
„Weshalb? Ich stehe ganz allein im Leben da, ohne
Eltern und Geschwister, sogar ohne Verwandte. Früher
überkarn mich Wohl das Gefühl der Vereinsamung, jetzt
muß ich mir selbst gestehen, daß es für mich an: besten
ist. Wenn ich denselben Weg getragen werde, auf den:
wir den Mediciualrath zur Ruhe geleitet haben, so wird
um mich wenigstens Niemand trauern:."

Das Buch für Alle.

„Doch, doch!" rief Christine und erfaßte, sich selbst
vergessend, die Hand des jungen Arztes. „Sie vergessen,
wie viele Freunde Sie besitzen," fügte sie, sich fassend,
hinzu.
„Die Freunde werden sich schnell trösten," versetzte
Leonard und verließ die Kranke.
Der Knecht hatte sein Pferd vor den: Haufe auf
und ab geführt, er rief ihn heran. Als er ans das
Pferd stieg, warf er einen Blick zu Käthe's Zimmer
empor, er sah sie und glaubte, in ihren Augen Thränen
zu bemerken, hastig trat sie von: Fenster zurück.
Erregt gab er dem Pferde die Sporen und sprengte
davon. Als er die Wassermühle verlassen, ließ er es
langsam gehen und die Hand, welche die Zügel hielt,
müde auf der: Sattelknopf herabsinken. Seine Gedanken
waren in der Wassermühle geblieben. Weshalb weinte
Käthe? Weshalb war sie mit leisen: Aufschrei empor-
gesprungen, als er in das Zimmer getreten? Wenn ihre
Mutter die Unwahrheit gesagt, wenn sie nur gezwungen
den: Gutsbesitzer ihre Haud gereicht, wenn ihr Herz —
er wagte nicht, den Gedanken auszudenken. So wie er
sie, konnte sie ihn doch nicht geliebt haben, sonst würde
keine Macht der Erde stark genug gewesen sein, ihr Herz
zu bezwingen.
Er hatte zu Christine die Wahrheit gesprochen: ein
Arzt hat nicht Zeit, an sich zu denken, er wenigstens
hatte diese Zeit nicht.
Alle Familien, bei denen der Medicinalrath Arzt ge-
wesen war, hatten nach dessen Tode ihr Vertrauen auf
ihn übertragen und es war sein einziges Streben, das-
selbe zu rechtfertigen, er lebte nur für seiner: Beruf,
hatte er eine freie Stunde, so brachte er sie in Dürin-
ger's Familie zu, denn das Glück in derselben, die in-
nige Liebe, mit der Alle einander zugethan waren, wirkte
wohlthuend und beruhigend auf ihr: ein.
Ei nu ndzwanzigstes K aP i tel.
Zum Schluß.
In der Wassermühle schien der blaue Himmel des
Glückes nicht wieder zum Durchbruche kommen zu können.
Die Vorbereitungen zu Käthe's Hochzeit wurden getroffen,
allein auf Aller: lag ein Gefühl des Druckes und der
Beforgniß.
Christine war immer noch nicht wieder hergestellt
und kränkelte dauernd. Sie sagte Niemand ein Wort
darüber, keine Klage kam über ihre Lippen, allein ihre
Schwäche verrieth es nnr zu deutlich.
Am meisten flößte Käthe den Ihrigen Besorgniß
ein. Ihr Charakter schien völlig umgewandelt zu sein,
denn während sie früher das heitere und Alle belebende
Element im Hause war, fo war sie jetzt still und mei-
stens allein. Wenn ihr Verlobter kain, so war sie freund-
lich gegen denselben, allein nie eilte sie ihn: nut den
Zeichen inniger Liebe entgegen. Die Ihrigen und nament-
lich ihre Mutter schienen ihr fremd geworden zu fein.
Als Streben den Wunsch ausgesprochen, daß sie bald
für immer die Seinige werden möge, hatte sie ohne
Widerrede eingewilligt, die Vorbereitungen zur Hochzeit
wurden getroffen, aber sie schienen sie nicht in: Gering-
ster: zu interessiren. Sie blickte so theilnahmlos auf
dieselben herab, als ob sie einer Fremden und nicht ihr
gälten.
Mit wachsender Besorgniß sah Christine die schein-
bare äußere Ruhe ihrer Tochter. Wohin sollte es
führen, da sie Streben nicht zu lieben schien! Sie selbst
würde ihr gerathen haben, die Verlobung aufzuheben,
wenn die Hochzeit nicht so nahe gewesen wäre.
Ter Hochzeitsmorgen war gekommen. Käthe befand
sich auf ihrem Zimmer und ließ sich von ihrer Mutter-
ankleiden und schmücken, noch immer bewahrte sie die-
selbe Ruhe und Gleichgiltigkeit; auf dem Tische lag eir:
werthvoller Goldschrnuck, mit dem Streben sie am Mor-
gen überrascht hatte, sie warf kann: einen Blick darauf.
Ihre Wangei: waren auffallend bleich.
In Christinens Augen drängten sich Thränen. Sie
hatte sich der: Augenblick, in dem sie ihre Tochter zur
Trauung schmücke:: könne, mit als den schönsten ihres
Lebens geträumt und jetzt hätte sie aufschreien mögen
vor Schmerz. Ihre Hand zitterte, als sie Käthe eine
Blume in das reiche Haar steckte; diese schien ihre Er-
regung kann: zu bemerken.
Die Dienstmagd trat ein und brachte ein kleines
geschlossenes Kästchen, welches ein Bote aus der Stadt
abgegeben hatte.
Ruhig, theilnahmlos öffnete Käthe dasselbe, kann:
hatte sie indessen einen Blick hinein geworfen, als sie er-
schreckt und zitternd zusammenzuckte. In dem Kästchen
lag eir: einfaches goldenes Kreuz ar: schwarzem Bande
und sie kannte es nur zu genau. Jahre lang hatte sie
es getragen und es dann einst Leonard für die arme
Frau gegeben. Er hatte es aufgehoben — er sandte es
ihr an diesem Tage zurück. Auch Christine erkannte es
sofort.
Käthe schien alle Kraft zusammen zu nehmen, um
sich zu beherrschen, sie wollte zurückdrängen, was sie
noch Niemand gestanden hatte, das einfache Kreuz blickte
sie so mahnend an, es schien ihr zu sagen, daß an diesen:

53l

Tage noch ein anderes Herz der Verzweiflung nahe fei
— ihre Kräfte reichte nicht aus, sie Preßte das Kreuz
leidenschaftlich an ihre Lippen und sank dann heftig
schluchzend auf einen Stuhl.
Was sie seit Wochen und Monden in sich verschlossen
hatte, das brach sich jetzt gewaltsam in Thränen Bahn.
Sie schluchzte so leidenschaftlich, daß Christine besorgt zu
ihr trat, um sie zu beruhigen. Liebkosend strich sie mit
der Hand über die Stirne der Weinenden.
Käthe bog den Kopf zur Seite.
„Du hättest mich nicht täuschen sollen, als Du mir
sagtest, daß Leonard sich verlobt habe!" rief sie.
Christine zuckte zusammen. Hatte sie sich selbst doch
bereits genug Vorwürfe gemacht, daß sie die Unwahr-
heit gesagt, um ihrer Tochter den nothwendigen Kampf
zu erleichtern.
„Kind — Kind," fiel sie ein.
„Er ist nicht verlobt," fuhr Küthe fort. „Nur die
Verzweiflung hat mich getrieben, Streben meine Hand
zu versprechen, ich hoffte von: Leben kein Glück mehr,
da war es mir gleichgiltig, ob ich die Fran Streben's
oder eines anderen Mannes wurde, ich wollte Deinen
Wunsch erfüllen — ich ahnte ja noch nicht, wie schwer
es mir werden würde!"
„Kind, Streben ist ein guter und edler Mann,"
sprach Christine, der jedes Wort ihrer Tochter tief in
das Herz hinein schnitt.
„Ist Leonard vielleicht weniger gut und edel? Wes-
halb bist Du gegen ihn gewesen, weshalb hast Du un-
sere Herzen ans einander gerissen? Weil er weniger reich
ist als Streben!"
„Käthe — Käthe!" unterbrach sie die Mutter. Die
Vorwürfe trafen sie mit unsagbarer Schwere. „Gott ist
mein Zeuge, daß ich darar: nicht gedacht habe! Ja, ich
habe Dich getäuscht — ich mußte es — es blieb mir
kein anderes Mittel übrig — ich hoffte, Dir und Leo-
nard der: Kampf zu erleichtern — nur deshalb, nur
deshalb — denn er durfte ja nie der Deinige werden!"
„Er durfte nicht?" wiederholte Käthe. „Weshalb
nicht?"
Christine wandte sich ab, ihr Mund hatte bereits
mehr gesagt, als er sagen durfte.
„Mutter, weshalb nicht — weshalb nicht?" ries
Käthe, leidenschaftlich aufspringend und die Hand der
Mutter erfassend.
Christine suchte sich der Tochter zu entziehen, Käthe
hielt sie fest.
„Ich lasse Dich nicht, bis Du es mir gesagt hast!"
rief sie. „Ich habe Dir das Opfer gebracht, Streben
mein Wort ^zn geben, nur: sage nur wenigstens, wes-
halb Leonard nicht der Meinige werden durfte."
„Ich will es Dir sagen," entgegnete Christine end-
lich. „Ich setze das Vertrauei: in Dich, daß Du das,
was ich Dir mittheile, für immer bei Dir bewahreu
wirst. Leonard kann der Deinige nicht werden, weit —
weil er Dein Bruder ist!"
Starr blickte Käthe die Mutter an.
„Mein Bruder?" wiederholte sie dann, da sie die
Worte nicht begriff.
„Hier setze Dich zu mir — ich will Dir Alles sagen,"
fuhr Christine fort und sie erzählte das Unglück, welches
durch Rode's Thal über sie gebracht war und wie sie in
der Stunde der höchsten Verzweiflung das Zwillingspaar
dein Findelhause anvertraut habe.
„Erst vor wenigen Monaten habe ich erfahren, daß
Leonard mein Sohn ist," fügte sie hinzu. „Ich hatte
nicht den Muth, cs Dir zu gestehen, ich wußte, daß Du
ihn liebtest, allein ich hielt diese Liebe nicht für so stark,
daß Du sie nicht bald überwinden würdest, denn über-
winden mußtest Du sie unter allen Verhältnissen."
Käthe schwieg und blickte vor sich hin, ihre Brust
athmete schnell und verrieth, daß eir: heftiger Kampf in
ihr stattfand. Konnte es ihr so schnell gelingen, die
Liebe, die sie in sich getragen und mit stiller Leiden-
schaftlichkeit genährt hatte, Plötzlich in geschwisterliche
Neigung zu verwandel::? Sie mußte die Unmöglichkeit,
daß Leonard je der Ihrige Werder: könne,, einsehen, er-
kannte indessen ihr Herz dieselbe so schnell an?
Käthe fand sich in den Gedanken schneller hinein,
als Christine vermuthet hatte. Sie war entschlossen ge-
wesen, ein Opfer zu bringe::, jetzt erschien ibr dasselbe
ganz anders, wenn sie Streben ihre Hand reichte, so
war das nicht mehr ein Verrath ar: ihren: Herzen.
„Weiß Leonard, daß — daß er Dein Sohn ist?"
fragte sie.
„Nein, er darf dies auch nie erfahren."
„Weshalb nicht?" fuhr Käthe fragend fort.
„Würde er das so leicht überwinden, wenn er er-
führe, daß fein Vater einen: Menschen das Leben ge-
nommen, würde seine Herkunft ihm nicht in seinem Leben
und Berufe hindernd entgegentreten?"
Käthe nickte halb zustimmend mit den: Kopfe.
„Sieh, er verkehrt fast täglich in dem Hause Dürin-
ger's, der Sohn desselben ist ihm eng befreundet," fuhr
Christine fort, „würde er es wagen, Düringer's Hans
wieder zu betreten, wenn er erführe, daß sein Vater
Düringer's Vater getödtet hat? Ich habe kein Recht,
ihm das Glück nnd die geachtete Stellung, die er sich er-
 
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