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ERSTES KAPITEL.

geradezu danach. Die drängende Enge seiner Umgebung steigert
die Wirkung seiner Erscheinung, man glaubt sich mit empor-
genommen. Die Freilegungen einer späteren Zeit, die nur den
Teil, nicht die Gesamtheit, die Situation sah, sind Vergehen
gegen das innerste Lebensprinzip der Gotik. Zudem verträgt
die gotische Fassadenfläche nicht die Fernansicht, da ihre
Gliederung keine geschlossene Ruhe besitzt, die steilen Schärfen
auf die Ferne hin aber ihre Kraft verlieren.
Für den Innenraum hat dieser Vertikalstil eine besondere
Schönheit entwickelt, die der moderne Mensch unerträglich
finden würde, wenn er die Raumproportionen einer gotischen
Kathedrale aufzufassen vermöchte ohne die mystisch-religiöse
Stimmung seines Gefühlslebens, in der ein Verlassen der rein
optischen Wahrnehmung stattfindet. Raumproportionen wie
1:3: 71/2 (Mittelschiff von Notre Dame zu Paris) oder gar
1 : 3,14: 9 (Kölner Dom) bilden nur für den Bürger der mittel-
alterlichen Stadt den wohligen Raum.
So wird jener auch die Enge seiner Straßen und Plätze
durchaus nicht unangenehm empfunden haben; sie entstand
nicht einmal aus Terrainmangel, da die Mauern oft größere
Flächen unbebauten Landes umschlossen.
Die Physiognomie der Straße, ihre Fluchtlinie und Silhouette
ist abhängig von der einzelnen Hausanlage. Die Biegungen und
Brechungen der gotischen Fassaden bilden den unregelmäßigen
Straßenzug oder können sich ihm anbequemen; der schmale
Giebelbau erlaubt ein fortwährendes Absetzen und Abbrechen.
Die Gestaltung des Platzes ist von denselben Bedingungen
abhängig. Um ihn als den gegebenen Mittelpunkt der Stadt
sammeln sich die vornehmsten Bauten; es kommt kaum vor,
daß man für einen bedeutenden Bau einen neuen Platz anlegt.
Das Zusammendrängen vieler Häuser, demzufolge die Unregel-
mäßigkeit des Platzgrundrisses und die Geschlossenheit der
Platzwände, die wegen der Unregelmäßigkeiten und Knickungen
nur kurze Einsicht in die Zuführungsstraßen geben dem gotischen
Platz die räumliche Geschlossenheit, auf der teilweise seine
Wirkung ftir uns beruht. Eine bewußte Absicht spricht sich
 
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