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Almanach 1920
heit. War es das Ideal unserer Gesellschaft, die Voll-
endung in einer, auch handwerklich vollkommen sich
ausgleichenden Ruhe zu sehen, so ließ sich diesem die
Idee des nie sich Vollendenden gegenüberstellen — eine
andere Wesensart —: dem antiken Tempel die gotische
Kathedrale!
Es mußte der Zeichner vor allem aus dem Prokrustes-
bette des Buches befreit werden.
Mit Illustration verband man von Anfang den Be-
griff einer untergeordneten Gattung: sie dient, heißt
es etwa, den Text zu veranschaulichen oder dem Druck-
werk ein stattliches Aussehen zu geben.
Manche halten infolgedessen den Illustrator nicht für
eigentlich schöpferisch. Vermutlich ist es dann der
Vertoner einesTextes, derLiederkomponist auch nicht! I
Richtig ist, daß geringere Begabungen und Leistungen
ausreichen, ein hübsches Buch zustande zu bringen.
Wir haben in unserer Jugend manch solches in der Hand
gehabt, und in einer gemütlicheren Zeit wäre es ein
Verdienst, solcher braver Männer Gedächtnis aufzu-
frischen und ihnen in einer harmlosen Kunstgeschichte
des deutschen illustrierten Buches einen Ehrenstein
aufzurichten.
Diese — selbst der glänzende, einzige Dord durch
seine oft gleichgültige Überproduktion — und das un-
gezählte Heer der Namenlosen bleiben für den diskredi-
tierten Klang des Wortes Illustration verantwortlich.
Aber die Grenzen sind nicht ausgesteckt! Auch
ein Michelangelo wäre als Illustrator nicht zu groß,
auf die Beanstandung hin, daß dieser gewalttätige Geist
ein Buchmonstrum erzeugt hätte (was nicht einmal zu
Almanach 1920
heit. War es das Ideal unserer Gesellschaft, die Voll-
endung in einer, auch handwerklich vollkommen sich
ausgleichenden Ruhe zu sehen, so ließ sich diesem die
Idee des nie sich Vollendenden gegenüberstellen — eine
andere Wesensart —: dem antiken Tempel die gotische
Kathedrale!
Es mußte der Zeichner vor allem aus dem Prokrustes-
bette des Buches befreit werden.
Mit Illustration verband man von Anfang den Be-
griff einer untergeordneten Gattung: sie dient, heißt
es etwa, den Text zu veranschaulichen oder dem Druck-
werk ein stattliches Aussehen zu geben.
Manche halten infolgedessen den Illustrator nicht für
eigentlich schöpferisch. Vermutlich ist es dann der
Vertoner einesTextes, derLiederkomponist auch nicht! I
Richtig ist, daß geringere Begabungen und Leistungen
ausreichen, ein hübsches Buch zustande zu bringen.
Wir haben in unserer Jugend manch solches in der Hand
gehabt, und in einer gemütlicheren Zeit wäre es ein
Verdienst, solcher braver Männer Gedächtnis aufzu-
frischen und ihnen in einer harmlosen Kunstgeschichte
des deutschen illustrierten Buches einen Ehrenstein
aufzurichten.
Diese — selbst der glänzende, einzige Dord durch
seine oft gleichgültige Überproduktion — und das un-
gezählte Heer der Namenlosen bleiben für den diskredi-
tierten Klang des Wortes Illustration verantwortlich.
Aber die Grenzen sind nicht ausgesteckt! Auch
ein Michelangelo wäre als Illustrator nicht zu groß,
auf die Beanstandung hin, daß dieser gewalttätige Geist
ein Buchmonstrum erzeugt hätte (was nicht einmal zu