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Ich will mit Nichten unter die Propheten gehen. Ich will schweigen. Aber
ich weiß, was ich gesehen und was ich erlebt unter Menschen, die alle Tage mit
kritischen Flügen die feilgebotene Schönheit am Markte stehen sehen - ich kann
warten. Aber ich weiß, was ich weiß. Und des bin ich fröhlich im Sorgen-
tragen, von dem man erst hören mag, wenn der Winterhauch des Neujahrspsalms über
mich zog: „Der du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder,
Menschenkinder!"
* *
*
Ich will nun wieder ganz prosaisch 'und sachlich werden, wie es sich für einen
Menschen geziemt, den man immer mehr verantwortlich macht für eine in unsrer
Kirche aufflammende Bewegung. Daß ich die Probleme der Missionskunst
und der Keligionsunterrichtskunst ganz sachlich - wissenschaftlich aufzu-
nehmen versuche, wird diese und die nächsten Nummern des Kunstblattes zeigen.
Was die Kunst der Unglücklichen ist, das deutet der Artikel an: „Ich
bin gefangen gewesen" - und der Brief über „Psychiatrie und Kunst". Ls gibt
auch noch eine Kunst der Spitäler und der Herbergen zur Heimat und der Arbeiter-
Kolonien und der Fürsorgehäuser und wie die eherne Kette heißt, geschmiedet um
den Leib der Menschheit, die doch so sicher wohnt. Ich gedenke in diesem Jahre
mit rauher Hand die Kreise der sentimentalischen Kunstträumer zu stören, die da
glauben wollten, daß christliche Volkskunst nur ein Spielzeug für schöne Seelen
sei. Ich will am Neujahrspsalm des Mannes Moses nicht zu Schanden werden.
Ich will in der Kunst auch von der Weise reden, daß wir sehen, daß sie in die
Nacht Licht bringen kann und dem psalmisten nicht leichtgeschürtzt zu entschlüpfen
braucht, wenn er ruft: „Unsre Missetaten stellest du vor dich, unsre unerkannte
Sünde der Lust vor deinem Angesicht."
Mein Wille zur wissenschaftlichen Erforschung der uns immer mehr umdrängen-
den Probleme beweist auch der Artikel über „Protestantismus als Vuelle
der Kunst" von Nc. Dunkmann-Wittenberg, den uns diese Nummer bringt.
Mit diesem Aufsatz und seinem Verfasser verbindet mich außerdem ein Tag
im herbstlichen alten Jahre in Luthers Kloster zu Wittenberg, da ich zu den
Kandidaten an der alten Lutherstätte sprach über die Probleme der religiösen
Volkskunst. Als ich dort in der Lutherstube verweilte, ungestört - da dachte ich:
Man sollte einmal einen Tag von Wittenberg ausschreiben und alle zusammenkommen
von Rechts und Links, die sich heute bekriegen um Luthers Erbe willen. Jeder
bringe etwas von Junker Jörgs Schwert mit und sonne darin — ob nicht aus
Luthers Grab das Wort zu uns herübergeweht käme, oder obs nicht aus den
verwelkten Kosen und Lilien käme, die Martin Luther und Katharina von Bora
gepflanzt: „Lin neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet."
Die Freunde der Volkskunst werden ja wohl an einer andern Lutherstätte
im merkwürdigen Jahr l9ll sich grüßen und in einer großen, geistesverwandten
Brüderschaft sich die Hände reichen.
Freunde, da wollen wir doch von rechts und links auch diesen Tag die
Hände zusammentun. Der Bund der Freunde der Volkskunst scheint ja
auch seine Kinder wie der Tau aus der Morgenröte zu haben.
 
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