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geeignet haben; aber welch ungeheure Menge von derartigen Dienstleistungen müssen
nicht damals nothwendig gewesen sein, in einer Zeit, da die Wege so unvollkommen
und die Transportmittel noch so wenig entwickelt waren! Mit solchen Massen aber war
trotzdem Alles durchzuführen. Nachdem die grauenvolle Angst vor dem Anbruche des
jüngsten Tages, dem man mit Anfang des Jahres iooo entgegensah, sich als unbegründet
erwiesen hatte, hatte die Christenheit offenbar mit frischem Lebensmuthe neu aufgeathmet.
Wie wir es in Strassburg sehen, so machte man sich auch sonst überall an's Werk, neue
Kirchen zu bauen oder alte abzutragen, um sie schöner und grösser wieder erstehen zu
lassen. Angespornt von dem Klerus hat der Glaube die Volksmassen zu jenen friedlichen
Kreuzzügen fortgerissen, die drei Jahrhunderte hindurch wahre Wunder gewirkt haben. Und
zu gleicher Zeit bereiteten sich unter dem Rufe «Gott will es!» jene grossen Unternehmungen
vor, die kein geringeres Ziel hatten, als die durch Christi Gegenwart geheiligten Orte
von dem Joche der Ungläubigen zu befreien. Dieses Ziel ward allerdings nicht erreicht,
aber nichtdestoweniger haben die Kreuzzüge unberechenbare Folgen für ganz Europa
gehabt. Die junge christliche Gesellschaft scheint das Bedürfniss empfunden zu haben,
die Ueberfülle an Lebenskraft, die ihre Adern durchbrauste, über die ganze Welt hin
ausströmen zu lassen. Mit riesenhaften Unternehmungen hat sie ihren Weg gezeichnet:
sie hat uns auf der einen Seite die Kathedralbauten hinterlassen, die Bewunderung aller
späteren Jahrhunderte, auf der anderen die Erinnerung an kühne Heldenthaten, die einen
Tasso zu seinem «Befreiten Jerusalem» begeistert haben. Das genügt, um dem Mittelalter
seinen Ruhm zu sichern und um manche Jahrhunderte, die nicht gleich stolze Erinnerungen
hinterlassen haben, darauf eifersüchtig zu machen.
Die Kathedrale Wernhers war der Zeit nach eine der ersten, die aus der grossen
Bewegung des n. Jahrhunderts hervorgingen.
Grandidier gibt von ihr eine Beschreibung, deren Wiedergabe sich lohnt, da sie
zweifellos in vielen Punkten der Wirklichkeit genau entspricht, und jedenfalls in sofern
lehrreich ist, als sie dem Leser eine Vorstellung davon verschafft, was in jener Zeit zu
einer bedeutenden Kirche gehört hat.
«Die Kathedrale», sagt er, «war umgeben von Höfen, Gärten und klosterartigen
Bauwerken. Den Anfang machte, von Westen her (nach dem heutigen Gutenbergplatze
zu) ein langer Hof mit Seitengängen, deren Decken auf Säulen ruhten, wie man es heute
noch in den Kreuzgängen der Klöster sieht. In diesen Seitengängen hielten sich die Armen
auf, die vor den Thoren der Kirche betteln durften. Am Eingange dieses Hofes war ein
Brunnen, der in den alten Nekrologien der Kathedrale oft genug genannt wird: « fons ante
monasterium». Hier wusch man sich Hände und Gesicht, um sich vor dem Gebete zu
reinigen. Dieser Hof erstreckte sich in der ganzen Länge der nachmaligen Blumen-
und heutigen Krämergasse. An seinem Ende befand sich eine Säulenhalle, die später
abgetragen und in einen freien Platz umgewandelt wurde. In dieser Säulenhalle, die mit

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