Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
«

Viel später erst kam Victor Hugo. In seinem Werke «Le Rhin» schildert er, wie
er auf dem Wege von Zabern her früh morgens um 6 Uhr von den Höhen des
Kochersbergerlandes aus zum ersten Mal die Kathedrale erblickte. «Das riesenhaste
Gebäude, der höchste Gipfel, der seit der Zeit der Pyramiden von Menschenhänden
errichtet wurde » (der Kölner Dom war damals noch nicht ausgebaut), hob sich klar und
deutlich von einem wirksamen Hintergrund ab, den ein «düsteres Gebirg mit grossartigen
Formen» bildete. «Dort das Werk Gottes, für Menschen geschasfen, hier ein Menschen-
werk, zur Ehre Gottes aufgerichtet — die Berge und das Münster wetteifern an
Grossartigkeit, — ich habe nie Ueberwältigenderes geschaut. » Und weiterhin erzählt er
noch: «Gestern habe ich das Münster besucht. Es ist in Wahrheit ein Wunderwerk. Die
Portale sind schön, insbesondere das romanische. Die Fensterrose ist edel und schön
geformt, die ganze Oberfläche der Kirche bildet ein geistvoll komponirtes Gedicht. Aber
der eigentliche Stolz der Kathedrale ist der Thurm: mit seiner Bekrönung und seinem
Kreuze ist er eine wahre Tiara aus Stein, es ist eine wundervolle Mischung von
riesenhafter Grösse und vollendeter Zartheit. »
Diese Begeisterung Goethes und Victor Hugos wird von allen getheilt, die das
Münster zum ersten Mal erblicken, ebenso aber auch von allen Strassburgern selbst, bei
denen die Gewohnheit der Bewunderung keinen Eintrag thut.
Nach dem Thurm rühmt Victor Hugo mit warmen Worten die herrliche Facade
und das romanische Portal. Diese beiden Partien machen auch in der That den
gewaltigsten Eindruck auf den Beschauer, und man vergisst darüber leicht so manche
unfertige Theile, die sich an dem Münster finden. Diese Fehler sind von Architecten
und den Kunstgelehrten oft genug schon betont worden, so macht Viollet-le-Duc der
Thurmspitze den Vorwurf, dass sie im Verhältniss zum Thurm selbst zu kurz und zu
schlank gerathen, und, was noch wichtiger, unvollendet geblieben sei, dabei preist er
aber den Thurm trotz allem als eine der geistvollsten Schöpfungen der ausgehenden
Gothik. Göthe hatte nur eines zu bedauern: dass nur ein Thurm ausgebaut worden
sei, er hätte gerne den zweiten in der gleichen Höhe vollendet gesehen. Heutzutage wird
dieser Wunsch kaum noch von Jemanden ernsthaft getheilt, jedenfalls nicht von den
Strassburgern, die pietätvoll ihr Münster, so wie es ist, erhalten wissen wollen.
Die Pracht der Facade ist von jeher einstimmig anerkannt und bewundert worden.
Im Jahre i855 hat unser verdienter Strassburger Archäologe, Kanonikus Straub, damals
Professor am kleinen Uudwigsseminar, bei einer Preisvertheilung eine vortresfliche
Rede über die symbolische Bedeutung des Figurenschmucks der Kathedrale gehalten.
Mit der warmen Begeisterung der Jugend beschreibt er das wundervolle «Gedicht,»
das derselbe nach dem Ausspruch Victor Hugo's darstellt. Bis in das Einzelne
erklärt er die Bedeutung des Skulpturenschmuckes am grossen Mittelportal. Dieser
beginnt mit den 18. Figurengruppen der äussersten Hohlkehle, welche die Erschafsung

112
 
Annotationen