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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 1.1854

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JM 3. Donnerstag, den 8. Februar. 1834.

Inhalt: St. Crispin und seine Schule. I. und II. — Der Trompeter von Säkkingen. Von I. V. Scheffel.

St. Crispin und seine Schule. *)

i.

Zur Zeit, da die Götter des Alterthums vor dem Sturme der
Ueberzeugung, welchen die neue Religion von Osten her in das
Abendland wehen ließ, schon zu wanken begannen, lebte zu Rom
ein Mann, Crispinus, welcher, erfaßt von der Gewalt des neuen
Glaubens, auch sogleich beschloß, als Verkünder desselben aufzutre-
ten. Er reiste zu diesem Zwecke nach Gallien, nahm seinen Wohn-
sitz in Augusta Saussonum (dem heutigen Soissonö), wurde daselbst
seines Zeichens ein Schuster und predigte dabei den Heiden das
Evangelium. Aber nicht bloß durch das Wort, auch durch gute
Werke wollte er wirken, und so machte er unentgeltlich Schuhe für
die Armen, wozu er das Leder den Reichen stahl. Nicht deswegen,
sondern weil er als eifriger Heidenbekehrer dem Gesetze trotzte, wurde
er ergriffen und im Jahre 308 unter der Regierung des Kaisers
Marimin enthauptet. Die Kirche aber versetzte ihren getreuen Be-
kenner unter die Heiligen, als welcher er noch heute als Schutz-
patron vieler alten Dome und aller alten und neuen Schuster gilt.

Einer großen oder eigenthümlichen Erscheinung, sei es auf wel-
chem Gebiete es wolle, wird selten ein Kreis von Anhängern fehlen,
welcher sich, mit oder ohne Willen und Wissen seines Mittelpunktes
zu einer Schule gestaltet, die dann Lehre und Beispiel des Vorbil-
des in der verschiedenartigsten Weise weiterentwickelt, übertreibt oder
verdirbt. Diesem Schicksale konnte auch der Heilige von Soissons
nicht entgehn. Es ist eine große, weitverbreitete Schule, die Du,
heiliger Crispin, verschuldet hast und wenn Du nicht für sie bittest,
so wird ihr nicht — hier auf Erden aber auch trotz Deiner Für-
bitte nicht, — vergeben werden. j

Es ist unsere Sache nicht, dem Crispinismus auf den verschie-
denen Gebieten nachzugehen, wo derselbe sich gezeigt und versucht
hat; wir wollen nur auf eine Abtheilung seiner Wirksamkeit in der
Literatur blicken, auf die poetischen Sammelwerke, welche in neue-
ster Zeit so überhand nehmen.

Man wird uns nicht Zutrauen, daß wir uns damit anschicken,
die Sammelwerke oder sogenannten Anthologieen überhaupt zu
verwerfen und sie sämmtlich dem Crispinismus zuzuzählen. Die
Nothwendigkeit und Nützlichkeit bestimmter Gattungen derselben liegt
am Tage. Es giebt deren, welche, einsichtsvoll gearbeitet, pädago-
gischen Zwecken dienen, vorbereitende Stufen des Studiums der
Literaturgeschichte bilden oder aus anderweitigem wissenschaftlichen
Bedürfnisse entsprungen sind. Beispielsweise führen wir Wilhelm
Wackernagels Musterwerk an, welches unter dem bescheidenen
Titel eines „Deutschen Lesebuches" ein hoch anzuschlagendes Ver-

*) Wir geben zwei Aufsätze, die uns gleichzeitig von verschiedenen Seiten
über dasselbe Thema zugegangen sind unter dieser gemeinsamen Ueberschrist.

Literatur - Blatt.

dienst mitbringt. Solche Werke sind dann nach irgend einem ver-
nünftigen Prinzip gearbeitet. Aber es giebt dagegen andere, welche
keinen Zweck, als den der Zwecklosigkeit, kein Prinzip, als das der
Principlosigkeit haben, welche keinem Bedürfnisse entgegenkommen,
als einem eingebildeten oder unstatthaften und welche sogar, was
ihre daraus geschöpfte Eristenzberechtigung betrifft, dem Geist des
Nachdruckgesetzes nur mit genauer Noth vorbeisegeln.

Es wäre müßig, über solche Bücher ein Wort zu verlieren,
wenn sie so unschuldig wären, wie sie aussehen.

Als hauptsächlichstes Beispiel kann hier zunächst Kletke's
„Album deutscher Dichter" gelten und zwar eben weil es von allen
derartigen Sammlungen die meiste Verbreitung gefunden hat und
eine sechste Auflage die große Beliebtheit des Buches zu bestätigen
scheint. Der Herausgeber hat sich das unbeschriebene Album einer
Dame gedacht, an welches er die Dichter der Neuzeit heranruft, da-
mit sie sich einschreiben, nicht etwa ein Jeder nach seiner eigenthüm-
lichen Art, sondern vielmehr nach Hrn. K.'s subjectivem Gefallen.
Ein leitender Gedanke liegt dem Buche nicht weiter zum Grunde.

! Das literarische Recht zur Herausgabe glaubt mau aus der Erfin-
dung der Buchüberschriften — „Natur; Liebe, Leid und Lust; Haus
und Leben; Bild und Spruch; Andacht" — schöpfen zu können
und die verzeihliche Ansicht, als 'gehörten die eignen Verse in eine
Sammlung guter Gedichte hilft mit.

Damen lesen gern lyrische Gedichte und lassen sich gern zu
Weihnacht oder an Geburtstagen damit beschenken. Viele von ihnen
lieben auch, sich eigne geschriebene Sammlungen anzulegen, worin
sie ihre Lieblinge Zusammentragen.

Hier ist also ein offenbares Bedürfniß. Fragt sich nur, ob
man ihm durch ein „Album u. s. w." richtig entgegenkommt.
Keineswegs.

Zunächst wirken Sammlungen von Gedichten, in welchen eben
Allerlei und vorzüglich das „Zarteste und Duftigste" zusammenge-
tragen ist, selbst wenn sie von sehr geschickter Hand verfertigt wür-
den, der Selbstständigkeit des Gefühls und der Gesundheit des Ge-
schmackes in auffallender Weise entgegen! Die Kraft des Genie-
ßens, welche für ein Kunstwerk erforderlich ist, und die Freude am
Genüsse, welche eine tüchtige, gesunde Natur voraussetzt, geht ohne-
hin gar leicht verloren, und einen Dichter aus seinen Leistungen
als Persönlichkeit zu betrachten, sich ein ganzes Bild aus ihm zu
machen, hält man kaum heutzutage mehr für interessant, oder man
hat die Fähigkeit dazu verloren. Diese Fähigkeit, sich mit kräftiger
Empfindung an ein Ganzes hinzugeben wird verscherzt durch die
fieberhafte Hast, fast überall nur zu naschen, zu kosten, wobei das
sinnliche Element in der Kunst so leicht die Oberhand gewinnt. Wo
nun nicht einmal das Bedeutende und Charakteristische eines Dich-
ters, wodurch die Leserin gezwungen würde selbst zu denken, zu
prüfen, einen Maßstab anzulegen, sondern eben nur das sogenanure

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