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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 1.1854

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https://doi.org/10.11588/diglit.1203#0022
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16

Warschau zum Könige, der, wie sehr auch zur Gnade geneigt, den-
noch der Gerechtigkeit freien Lauf lassen zu müssen erklärt. Die
Hinrichtung ist unvermeidlich. Die verzweifelnde Mutter kehrt aber
anscheinend als Siegerin heim; sie tauscht Widimir durch die Fabel,
als sei der Pardon auf den letzten Moment verspart. Widimir
besteigt hoffend das Schaffot, und, ehe er den mütterlichen Betrug,
der ihm die Schrecken des letzten Ganges vergoldet, ahnen konnte,
ist er eine Leiche.

Dies das letzte Buch: „Fromme Lügen!"

Was aus den übrigen Personen wird, ist, nach einem solchen
Ende, fast gleichgültig. Zehn Zeilen resümiren diese Geschichte nach
der Geschichte, und daran hat der Autor wohlgethan.

Wir müssen diesen Neberblick des Buches geben, um eine Ba-
sis für das zu haben, was wir dem Verfasser zu sagen uns nicht
entbrechen können.

Sein Name behauptet unter den Dichtern der Gegenwart einen
rühmlichen Platz; bis jetzt glauben wir, daß — unter Allem, was
er geschrieben — „Janko der Roß Hirt" das Postament ist, auf
dem der Ehrenpreis seiner Leyer ruht.

Die „Mater dolorosa" scheint uns kein netter Sieg zu sein,

wenn auch allerdings keine Niederlage.

Ob oder wieviel Wahrheit mit der Dichtung verflochten sei, be-
rührt uns hier nicht. Der Theil der Geschichte, der am ehesten auf
historischem Grunde ruhen könnte, — die Katastrophe des vierten
Buches — ist unstreitig das Gelungenste in Anordnung und Aus-
führung, vielleicht aber auch die einzige Stelle des Werks, wo der
Leser, gleichsam von der Gewalt der Situation und von der Kunst
der Darstellung sich selbst entführt, unwillkürlich dem Dichter gehorcht
und das schaudernd mit erlebt, was er liefet, erst hinterdrein
die Freiheit wieder gewinnend, sich kritisch darüber zu erheben.

Anders verhält es sich — von der an Raffinement streifenden
List einer Mutter gegen ihren zum Tode gehenden Sohn .(im letzten
Buche) zu geschweigeu — mit dein, was dieser Katastrophe voran-
geht und, wir räumen dies dem Verfasser gern ein, sie langsam vor-
bereitet oder doch, seiner Absicht nach, vorbereiten soll, insofern die
Erlebnisse des Sohnes eben das Material abgeben sollen, aus
welchem die Situation des letzten Conflikts mit dem Vater er-
wächst.

Diese Erlebnisse aber sind eben nur ein willkührliches Konglo-
merat von Thatsachen, die mit dem bewegenden und erzeugenden
Elemente, dem Karakter, wenig oder nichts zu thun haben; wir
glauben behaupten zu können, daß Widimirs Cieisbeat bei der
Marquise ganz wegfallen und dennoch der Brautstand mit Clemence
denselben Konflikt mit dem Vater herbeiführen könnte; der polnische
Gesandte konnte eben so fatal eingreisen, wenn Widimir ihm ge-
fährlich erschien.

Mag die Marquise, wie der Verfasser sie durchführt, (bis auf
die Rache und Cabale, von wo ab sie entschieden alles poetische
Interesse verscherzt) in ihrer Lage und Verfassung eine Gestalt sein,
welche vielleicht, wenigstens in einzelnen Zügen, Anspruch auf Ori-
ginalität und auf tragische Wirkung hat, — dies könnte sie mit
jedem jungen Manne sein, der ihr das erste Gefühl wahrer
Liebe erweckt; und hätte der Verfasser sie zur Heldinn einer Er-
zählung gemacht, so wäre ihr besser geschehen.

Aber auch so, wie es geschrieben steht, ist doch noch einiges
Kopfschütteln unvermeidlich.

Der Verfasser gebietet über reiche Mittel der Sprache, wie der
Erfindung. Um so peinlicher überrascht finden wir uns durch ge-
wisse Mißgriffe gerade da, wo wir die größeste Sicherheit voraus-
setzen durften.

Ist es schon bedenklich, ein (man verzeihe uns den scharfen

Ausdruck) ehebrecherisches Verhältniß, wie dasjenige der Marquise
und Widimirs, mit aller Vorliebe und Sorgfalt zu malen, welche
andre Dichter einem reinen Verhältnisse zuwenden, und uns durch
alle Gedankenquälerei der Eifersucht, der Zärtlichkeit, der Furcht und
Hoffnung, hinter sich her zu ziehen, ohne einen andern Zweck, als
den der Schilderung selbst; so möchten wir noch, vom formellen
Standpunkte aus, in Frage stellen, ob, nachdem eine völlige
Trennung bereits vorausgegangen und eine anderweitige Ver^
lobung Widimirs dazwischengetreten, dieser bei dem Wiederbegegnen
mit der Marquise eine Sprache führen kann, wie er sie (S. 155
u. ff.), halb ironisirend, halb eifersüchtelnd, führt; ja über-
haupt, ob ein solcher Sohn, von einer solchen Mutter in die Welt
entlassen, einem solchen Weibe, wie sie sich ihm nur zu grell zeigt,
sich in solcher Liebe anschließen konnte!

Fassen wir den Gesammt-Eindruck zusammen, so liegt uns eine
Erzählung vor, die man eben mit einiger Anregung lieset, an der
man stellenweise sogar ein tiefer reichendes Wohlgefallen findet, die
aber weder ästhetisch noch psychologisch neu oder groß erscheint, und
nachhaltige werthvolle Erinnerungen, bereichernde Empfindungen
zurückzulassen unvermögend ist.

. Es ist dies ein Schicksal, welches das vorliegende Produkt mit
der Mehrzahl, ja Ueberzahl seiner Zeitgenossen theilt, und gegen
welches nur die brittische und skandinavische Muse bis heran sich zu
behaupten gewußt haben. Mehr oder minder alle unsere modernen
Romanschreiber Wegelagern aufs Ungeheuerliche, Niedagewesene, oder
staffiren die gemeine Alltäglichkeit zwischen Mansarden und Salons
mit dem Flitterstaat subjektiver Geschwätzigkeit auf, und verwechseln
das Haarsträubende mit dem Erhabenen, die Sentimentalität mit
dem Seelenvollen, die Karrikatur mit dem Humor, die Fratze mit
dem Portrait, ihre Phantasie mit der lebendigen Welt, ihr Belieben
mit der Nothwendigkeit.

Man schreibt in unsern Zeiten zu rasch und zu viel; und in
der Literatur, wie in den Fabriken, jagt die schwindsü^tige Konkur-
renz die Solidität zu Tode.

Möge unser Autor auf jenes sein Gebiet zurückkehren, wo sein
Talent in heimischer Ruhe unangefochten zu blühen vermag.

K r > i» » »•

R. Derlm. Die Redwitz'sche Tragödie „Sieglinde" hat den Versuch
einer eigenthüinlichen Art von Kritik veranlaßt, deren Humor die Stelle des
ernstlichsten Tadels ersetzt. W. v. Merckel hat so eben eine Arbeit vollendet,
in welcher die genannte s. g. Tragödie sich von selbst einfach dadurch in ein Lust-
spiel umwandelt, daß die auftretenden Personen und die Scene für Scene bei-
b eh alten e Handlung, der Redwitz'schen Ueberschwanglichkeit entkleidet, auf die
gesunde Natur reduzirt sind und in dieser Weise mit drastischer Naivetät
eben so ergötzlich die tragische Armuth des Redwitz'schen Kothurns, wie die
Schaalheit der Fabel illnstriren. Die Arbeit ist aber um so weniger mit einer
gewöhnlichen Parodie zu verwechseln, als der Verfasser den Takt gehabt, die
religiöse Überspanntheit des Originals nngegeißelt zu lassen und nur einzelne
Schlaglichter darüber zu werfen. Wie wir hören, steht die Veröffentlichung die-
ser heitern Luknbration in Aussicht.

In den preußischen Kammern ist in Bezug auf die Wahrung des Autor-
rechts bei dramatischen Werken das wichtige Gesetz durchgegangen, daß beim
Drucke derselben die einfach vorgedruckte und mit dem Namen des Dichters Un-
terzeichnete Erklärung, daß er sich das Recht der Aufführung Vorbehalte ihn
vor dem Mißbrauch dieses Rechtes schützen soll, so daß also das in den Druck
hinausgetretene dramatische Manuscript keineswegs zur beliebigen Aufführung
freisteht. Mit einem Worte, es ist der bisher durch kein Gesetz sekundirten'übli-
chen Bemerkung: „Den Bühnen gegenüber Manuscript" Nachdruck und Bedeu-
tung gegeben.

Verlag von Heinrich Schindler in Berlin. - Druck von Tromhsch und Schn in Berlin.
 
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