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vielmehr in dem Wie eines Ereignisses zu beruhen, nicht in den
Vorgängen, sondern im Seelenantheil der Betheiligten an diesen
Vorgängen. Oder ist die Geschichte von Herrmann und Dorothea
ein unbegreifliches Ereigniß voll räthselhafter Umstände? Und ist
ist nicht eben darum weil sie so einfach ist, das Wunder in den
Gemüthern um so größer und rührender?

Wir waren diese Worte dem Dichter schuldig, weil wir glau-
ben, daß er sich selbst geschadet hat. Auch er weiß, daß das Wun-
der einfach ist. Er hat Züge der höchsten Gewalt, die aus diesem
Wissen stammen. Erschütternd ist es, wie im siebenten Gesang der
Grieche durch einen Blick auf den Tempel, dem er schon vorüber-
reiten wollte, seines Halblebens, seines künstlichen Selbstbetruges
inne wird, und wie rasend dem geliebten Hügel zueilt. Ueberhaupt
waltet zwischen ihm und Chariton Natur in Fülle;

Sie bildet regelnd jegliche Gestalt

Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt. (Faust.)

Zn Schilderung dieser leisen NothWendigkeit reiner Schick-
sale ist Grimm ein Meister. Nur scheinen uns gewisse Charaktere,
solche nämlich, die der Natur durch eigne Reflexion entfremdet wor-
den, poetisch entschiednerer Mittel zu bedürfen, um in ihrem Han-
deln erklärt zu werden. In Diomedes und Chariton wirkt jene
„Natur und ihr lebendiges Fließen" in aller Lauterkeit. Sie thun
das Rechte, vertrauen wir, denn die, Natur thut es für sie. An-
tonius dagegen, der (S. 26.)

sammelte, was er gesä't,

Zur rechten Zeit, und fragte sich besonnen,
Was er verloren und was er gewonnen,

sollte billig, auch wenn Leidenschaft ihn über seine Schranken hinaus
der Natur wieder genähert hat, nicht so lange Zeit in seiner dumpfen
Unbesonnenheit verharren. Reimt es sich mit einem nachdenklichen
reifen Charakter, der seine Zwecke begreift, daß Antonius, ohne des
Mädchens im geringsten sicher zu sein, den lebhaften schönen, jün-
geren Freund ihr znführt? daß er glaubt, nun Chariton völlig für


sich zu haben und Diomedes ihrem Vater zuweisen zu können? daß
er, nachdem er vom Sturm und Frohlocken ihres Wiederflndens
Zeuge gewesen, erfahren hat, wie lange sie sich kennen und täglich
sehen konnte, wie ihre Neigung wuchs, dennoch den Augenblick von
Diomedes zufälliger Entfernung abpasst, sich einem Mädchen anzu-
tragen, das ihm in der letzten Zeit ferner und ferner gerückt ist?
Und wie der Freund in edler Entsagung sich zurückgezogen hat —
darf er noch immer kommen als sei nicht geschehen, sich das Opfer
bringen lassen, als verstände es sich von selbst, was doch so gewalt-
sam ihm zu Liebe veranstaltet worden, und sich (S. 107) der
„wahnsinnig hohlen Hoffnung" einen Winter lang hingeben? Es
ist wahr, daß besonnene Charaktere, reflectirende, mehr als iustinc-
tive vom Schein betrogen werden. Aber ist hier ein Schein? Und
für einen solchen zu sorgen war der Dichter verpflichtet, wollte er
uns nicht alle Theiluähme an diesem haltlosen Hin und Her einer
selbstsüchtigen Reflexion unmöglich machen.

Hier aber ist der Ort, zu gestehen, daß wir selbst eine gute
Weile, wenigstens während des ersten Lesens, betrogen wurden, daß
wir den Schein erst vermissten, als wir uns selbst besonnen hatten,
und zu reflectiren begannen. Nicht als wäre nun der Fehler we-
niger wirklich und nur ein Gemacht unserer Reflexion. Aber wie
dem Dichter die starke Betheiligung seines eigenen Gemüths seine
Gestalten so verschleiern konnte, daß er, so tief er sich in ihre Stim-
mung einließ, dennoch nicht Herr über sie blieb, so entreißt die
Wanne und Innigkeit der Darstellung auch dein Leser anfangs das
klare Urtheil und zieht ihn in diese Traumwelt unwiderstehlich hin-


ein. Das Seltsamste ist, daß durch die starke Subjectivität des
Antonius, die überall durchbricht, in betrachtenden Eingängen eines
jeden Gesangs, im zärtlichen Haften an irgend einem einzelnen un-
wichtigen Moment der Handlung oder einem Stück romantischer
Wildniß — daß, sagen wir, durch all das Einmischen seiner Person
der durchaus epische Ton und Stiel der Novelle nicht gelitten hat.
Im Grunde aber bleibt dies nur so lange seltsam, als wir die ver-
worrene Vorstellung von dem, was lyrisch ist, abstracten Aestheti-
kern nachsprecheu. Ihnen zufolge wäre jeder ausgesprochene Antheil
des epischen Dichters an seinem Stoff ein ungehöriges Eindringen
der Lyrik. Man beruft sich hiesür immer und immer wieder auf
die Plastik des Homer, ohne zu beweisen, daß wir gerade so und
nicht anders zu erzählen haben, als es den Griechen natürlich war,
ohne zu bedenken, daß schon in Niblungenlied der prophetische, ent-
schuldigende, anklagende und klagende Dichter seinen Gestalten hie
und da wie ein Chorführer zur Seite zu treten pflegt.

Nur das Eine ist eine Gefahr, der Viele unterlegen sind,
Handlung und Gesühl, Ereigniß und Betrachtung gleichsam streifen-
weise nebeneinander zu legen, und so die Stellen, an denen der Er-
zähler sein Gefühl nicht zurückhalten kann, förmlich zu kleineren ly-
rischen Gedichten abzurunden. *) Und über diese Gefahr hat Grimm
das Beispiel Byrons, bei dem er auf jeden Fall in die Schule ge-
gangen sein muß, glücklich hinansgeholfen. Wie dieser erzählt er,
wie ein Gebildeter spricht, in leichten Seitenblicken dies und das
berührend, was sein Weg streift, und nur auf den Höhepunkten
seines Stoffes ganz und gesammelt in ihm versunken. Und so ge-
schieht es freilich, da der Stoff nicht überall mächtig und voll ist,
daß wir ihn gelegentlich über dem Dichter vergessen, wie ein guter
Erzähler auch im Leben durch die Anmuth seiner Rede uns das
Einzelne so aus Herz legen kann, das wir gegen das Ganze gleich-
gültig werden. Bei einem Kunstwerk mag dies ein Fehler sein.
Der Künstler aber, der ihn begehen kann, hat von seiner Begabung
ein vollgültiges Zeugnis; abgelegt. Wir sagen nun, wenn dies am
dürren Holze eines geringen Geschichtchens geschieht, was wird erst
am grünen eines bedeutenden Vorwurfs offenbar werden?

Einen solchen gönnen wir nnserm Dichter von Herzen. Ein
solcher wird ihre auch stillschweigend dazu nöthigen, das Zuviel an
psychologischem Gegrübel von sich thun, daß er, im Ernst feiner.
Arbeit, nicht immer klar genug als Vorarbeit erkennt. Der volle
Schlag des Herzens wird nicht minder durch alle Adern seines
Werkes gehn, wenn diese nur dem Kennerauge sichtbar, durch die
Oberfläche der schönen Gestalt hindurchschimmern.

8 e i t ii ii g.

AerilN. Paul Heyse ist, nachdem er sich Hierselbst mit der Tochter
unseres geschätzten Mitarbeiters Franz Kngler vermählt hat, nach München in
seine neue Stellung abgegangen.

Otto Roqnette hat von hier nach Dresden übergesiedelt.

*) Denn lyrisch dichten heißt nicht, in Versen Gefühle äußern, sondern sein
Gefühl wie ein eigenes künstlerisches Object selbständig in Scene setzen. Und
so ist es eine Thorheit, in Shakespeare's Dramen gleich von lyrischen Stellen
zu sprechen, wo das Gemüth einer der handelnden Personen sich äußert, wie es
durch die Handlung bedingt wird. Hiernach bestände ein leidenschaftliches Drama,
wie z. B. Romeo und Julie, aus einer Mosaik lyrischer Gedichte, was nur
dann wahr sein mag, wenn die geäußerten Gefühle, wie es oft geschieht, weder
mit der Persoü, die sie äußert, noch mit dem Ereigniß, an das sie anknüpfen,
in engem Zusammenhänge stehen.

Verlag von Heinrich Schindler in Berlin. — Druck von Trowihsch und Sohn in Berlin.
 
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