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Hans Schmidkunz:
Einen Beitrag zur Ueberwindung dieses
Mangels wollen unsere Zeilen bieten.
Die erste Frage, die sich allermeistens
Aus dem Cychis »Erste Liebei. (Zeichnung, 1895.)
erhebt, wenn ein junger Mensch sich der
Laufbahn in irgend einer Kunst widmen
soll, ist die: »Hat er Talent?« Die Frage
wird meistens mit viel Heftigkeit einerseits
und Aengstlichkeit andererseits aufgeworfen
und beantwortet. Es scheint uns aber, dass
man diese Frage im Ganzen weitaus über-
schätzt. Sie geht vor allem von einer Unter-
schätzung dessen aus, was durch Unterricht
und eigene Weiterbildung erreicht wird. Sie
beruht auf der Annahme, dass der Künstler
geboren werde, und dass nun nur noch der
Erwerb einzelner tech-
nischer Fertigkeiten
und vielleicht auch
Kenntnisse nöthig sei,
um das in ihm von
Geburt aus Angelegte
zur Entfaltung zu
bringen. Sie beruht
aber ausserdem noch
auf der Annahme,
dass der Grad dieser
Anlagen bereits vor
jenem Erwerb des
noch Nöthigen ge-
nügend zu erkennen
sei. Wir halten es
für eine wichtige
Sache, all diese Mei-
nungen auf ein viel
bescheideneres Maass
zurückzuführen.
Erstens lässt sich,
auch wenn man den
natürlichen Anlagen
eine grosse Bedeu-
tung zuerkennen will,
ihr Grad sowie ihre
Besonderheit (die üb-
rigens meist über
jenen vergessen wird)
erst im Lauf ihrer
Verwirklichung bei
dem Herantreten an
die Aufgaben des
jeweiligen Gebiets ge-
nügend erkennen, also
im Lauf der Lehr-
jahre. Wir möchten
noch weiter gehn und behaupten, dass nach
dieser Erkenntniss erst am Ende der Lehr-
jahre, also wenn sämmtliche Bestandtheile
des betreffenden Unterrichts durchgenommen
sind, mit Recht gefragt werden kann. Ja
selbst dann kommt noch viel darauf an, ob
und wie sich das in der theilweisen Un-
selbstständigkeit des Unterrichts Bewährte
auch auf den weiteren Wegen des selbst-
FR. ERLER—MÜNCHEN.
Hans Schmidkunz:
Einen Beitrag zur Ueberwindung dieses
Mangels wollen unsere Zeilen bieten.
Die erste Frage, die sich allermeistens
Aus dem Cychis »Erste Liebei. (Zeichnung, 1895.)
erhebt, wenn ein junger Mensch sich der
Laufbahn in irgend einer Kunst widmen
soll, ist die: »Hat er Talent?« Die Frage
wird meistens mit viel Heftigkeit einerseits
und Aengstlichkeit andererseits aufgeworfen
und beantwortet. Es scheint uns aber, dass
man diese Frage im Ganzen weitaus über-
schätzt. Sie geht vor allem von einer Unter-
schätzung dessen aus, was durch Unterricht
und eigene Weiterbildung erreicht wird. Sie
beruht auf der Annahme, dass der Künstler
geboren werde, und dass nun nur noch der
Erwerb einzelner tech-
nischer Fertigkeiten
und vielleicht auch
Kenntnisse nöthig sei,
um das in ihm von
Geburt aus Angelegte
zur Entfaltung zu
bringen. Sie beruht
aber ausserdem noch
auf der Annahme,
dass der Grad dieser
Anlagen bereits vor
jenem Erwerb des
noch Nöthigen ge-
nügend zu erkennen
sei. Wir halten es
für eine wichtige
Sache, all diese Mei-
nungen auf ein viel
bescheideneres Maass
zurückzuführen.
Erstens lässt sich,
auch wenn man den
natürlichen Anlagen
eine grosse Bedeu-
tung zuerkennen will,
ihr Grad sowie ihre
Besonderheit (die üb-
rigens meist über
jenen vergessen wird)
erst im Lauf ihrer
Verwirklichung bei
dem Herantreten an
die Aufgaben des
jeweiligen Gebiets ge-
nügend erkennen, also
im Lauf der Lehr-
jahre. Wir möchten
noch weiter gehn und behaupten, dass nach
dieser Erkenntniss erst am Ende der Lehr-
jahre, also wenn sämmtliche Bestandtheile
des betreffenden Unterrichts durchgenommen
sind, mit Recht gefragt werden kann. Ja
selbst dann kommt noch viel darauf an, ob
und wie sich das in der theilweisen Un-
selbstständigkeit des Unterrichts Bewährte
auch auf den weiteren Wegen des selbst-
FR. ERLER—MÜNCHEN.