IX. Abschnitt: Das Heraion und das homerische Königshaus
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IX. ABSCHNITT
DAS HERAION UND DAS HOMERISCHE KÖNIGSHAUS
Es ist ein alter Lehrsatz der griechischen Baugeschichte, dass die Griechen,
als sie ihren Göttern zum ersten Mal ein Haus bauten, — was sie in älteren
Zeiten nie getan hatten —, den Hauptraum ihres Königshauses als Vorbild für
den Tempel des Gottes genommen haben. Der Saal des Königspalastes wurde
zur Cella des Gotteshauses, zum eigentlichen vafc, und die Vorhalle des Saales
zur Vorhalle des Tempels, zum zpovaoc. Die Richtigkeit dieses Satzes konnte
man früher nicht an den Denkmälern selbst nachweisen, weil man zwar viele
alte griechische Tempel, aber keinen einzigen alten Königspalast besass. Von
diesem kannte man nur manche Einzelheiten aus der Literatur, namentlich aus
den homerischen Epen. Nachdem aber vor 50 Jahren durch Heinrich Schliemann
und mich das erste griechische Königshaus in dem mykenischen
Palaste von Tiryns und das Königshaus von Troja II ausgegraben war, liess sich
die Richtigkeit jenes Satzes an den Bauwerken selbst nachweisen. Es zeigte
sich, dass der griechische Tempel nicht nur seine allgemeine Gestalt, sondern
auch manche Einzelheit seiner Einrichtung dem achäischen Königshause ent-
nommen hat. Es war mir eine Freude, dass F. Noack in seinem Aufsatz „Studien
zur griechischen Architektur" (Jahrb. d. Inst. 1896, 232) für diese Überein-
stimmung eingetreten ist.
A. ALLGEMEINE ÜBEREINSTIMMUNG
Der Hauptraum des Palastes von Tiryns, der dem Megaron Homers entspricht,
hat im allgemeinen dieselbe Gestalt, wie die Cella des griechischen Tempels
und besitzt eine doppelte Vorhalle. Der innere Vorraum mit drei grossen Türen
und die äussere, mit Säulen ausgestattete Vorhalle kehren im Pronaos des ein-
fachen Tempels oder in der Vorhalle und der Ringhalle der grösseren Tempel-
bauten wieder. Die Ringhalle, die den eigentlichen Tempel und seine Vor-
halle in vielen Fällen wie ein Baldachin umgibt und überdeckt, fehlt allerdings
in allen bisher gefundenen griechischen Königspalästen und scheint eine schöne
und sinnvolle Erfindung oder Zugabe der Griechen gewesen zu sein; doch ist
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Idee einer solchen Ringhalle
aus dem Orient stammt, etwa aus Ägypten, Arabien oder Mesopotamien,
weil dort Gebäude mit Ringhallen schon für viel ältere Zeiten nachzuweisen
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IX. ABSCHNITT
DAS HERAION UND DAS HOMERISCHE KÖNIGSHAUS
Es ist ein alter Lehrsatz der griechischen Baugeschichte, dass die Griechen,
als sie ihren Göttern zum ersten Mal ein Haus bauten, — was sie in älteren
Zeiten nie getan hatten —, den Hauptraum ihres Königshauses als Vorbild für
den Tempel des Gottes genommen haben. Der Saal des Königspalastes wurde
zur Cella des Gotteshauses, zum eigentlichen vafc, und die Vorhalle des Saales
zur Vorhalle des Tempels, zum zpovaoc. Die Richtigkeit dieses Satzes konnte
man früher nicht an den Denkmälern selbst nachweisen, weil man zwar viele
alte griechische Tempel, aber keinen einzigen alten Königspalast besass. Von
diesem kannte man nur manche Einzelheiten aus der Literatur, namentlich aus
den homerischen Epen. Nachdem aber vor 50 Jahren durch Heinrich Schliemann
und mich das erste griechische Königshaus in dem mykenischen
Palaste von Tiryns und das Königshaus von Troja II ausgegraben war, liess sich
die Richtigkeit jenes Satzes an den Bauwerken selbst nachweisen. Es zeigte
sich, dass der griechische Tempel nicht nur seine allgemeine Gestalt, sondern
auch manche Einzelheit seiner Einrichtung dem achäischen Königshause ent-
nommen hat. Es war mir eine Freude, dass F. Noack in seinem Aufsatz „Studien
zur griechischen Architektur" (Jahrb. d. Inst. 1896, 232) für diese Überein-
stimmung eingetreten ist.
A. ALLGEMEINE ÜBEREINSTIMMUNG
Der Hauptraum des Palastes von Tiryns, der dem Megaron Homers entspricht,
hat im allgemeinen dieselbe Gestalt, wie die Cella des griechischen Tempels
und besitzt eine doppelte Vorhalle. Der innere Vorraum mit drei grossen Türen
und die äussere, mit Säulen ausgestattete Vorhalle kehren im Pronaos des ein-
fachen Tempels oder in der Vorhalle und der Ringhalle der grösseren Tempel-
bauten wieder. Die Ringhalle, die den eigentlichen Tempel und seine Vor-
halle in vielen Fällen wie ein Baldachin umgibt und überdeckt, fehlt allerdings
in allen bisher gefundenen griechischen Königspalästen und scheint eine schöne
und sinnvolle Erfindung oder Zugabe der Griechen gewesen zu sein; doch ist
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die Idee einer solchen Ringhalle
aus dem Orient stammt, etwa aus Ägypten, Arabien oder Mesopotamien,
weil dort Gebäude mit Ringhallen schon für viel ältere Zeiten nachzuweisen