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DIE STIMMUNG DES FREIRAUMES
46. Cosimo Tura: Verkündigung. Ferrara, Ka-
thedrale (Phot. Anderson)
Raumes zur Darstellung gebracht (Gentile Bel-
lini in der Madonna der Sammlung Mond in
London, im „Wunder des Kreuzes“, Venedig,
Akad., schließlich Marco Marziale in zahlrei-
chen Bildern). Auch die Wirkung des diffusen
Lichtes im freien Raum hat Carpaccio wieder-
gegeben. Betrachtet man Einzelheiten aus dem
Ursulazyklus wie den Kopf der Heiligen im „Ab-
schied Ursulas“ (Abb. 50), so findet man hier
genau jene Art von Modellierung, mit leichten,
durchsichtig grauen Schatten, wie sie Piero
della Francesca zuerst in die italienische Ma-
lerei eingeführt hat.
Immer ist in Oberitalien eine ganz andere
Einheit der Gesamtraumstimmung, des von Licht
durchfluteten Raumes, sei es nun ein Innenraum
oder eine Landschaft zu bemerken. In Bildern,
die Figuren in Landschaft enthalten, sind die
Figuren ganz anders in die Landschaft hinein-
gezogen, die landschaftlichen Motive wirken
nicht so als Requisiten, wie dies oft nicht nur
in Florenz, sondern auch in Umbrien, bei Signo-
relli, der Fall ist, wo das Interesse allzusehr auf die Figuren konzentriert erscheint.
Die freie Lösung der Figuren voneinander im freien Raum war neben dem Einfluß
Piero della Francescas und seiner eigenartigen Lichtbehandlung vor allem Mantegnas Raum-
tendenz zu verdanken. Wie ausgeprägt ist schon in einem Frühwerk des gerade in seiner
Jugend so stark von Mantegna beeinflußten Giovanni Bellini, der Kreuzigung des Museo
Correr in Venedig, die Freiheit und Gelöstheit der Figuren. Geringere Maler dieser Zeit
haben diese Freiheit nicht ganz in dem gleichen Grade: in Bartolommeo Montagnas Bildern
bemerkt man oft ein eigentümliches Kleben der Fi-
guren am Bildrand, eine sehr ausgesprochene Un-
freiheit, man betrachte nur Montagnas Altartafel
in Berlin (Abb. 52); vollends im Cinquecento wird
das Verhältnis gegen früher ein umgekehrtes, ein
solches Verwachsensein, Nichtloskönnen vom Bild-
rand, wie wir es im Cinquecento bei dem Veroneser
Maler Girolamo dai Libri finden (Abb. 17), dürfte
in Florenz zur gleichen Zeit schwerlich vorkommen.
In engstem Zusammenhang mit der freien
Lösung der Figuren im Raum, wie sie Oberitalien,
vor allem Ferrara und Venedig, durch Piero della
Francesca vermittelt wurde, steht die Tektonik der
Einzelfigur. Man wird bei Piero della Francesca
eine ganz eigenartige, nicht selten ein wenig steife
und befangene, aber doch immer aufrechte und ent-
47. Cosimo Tura: Detail aus derAncona Rove-
rella“. London,Nationalgalerie (Phot.Hanfstaengi)
DIE STIMMUNG DES FREIRAUMES
46. Cosimo Tura: Verkündigung. Ferrara, Ka-
thedrale (Phot. Anderson)
Raumes zur Darstellung gebracht (Gentile Bel-
lini in der Madonna der Sammlung Mond in
London, im „Wunder des Kreuzes“, Venedig,
Akad., schließlich Marco Marziale in zahlrei-
chen Bildern). Auch die Wirkung des diffusen
Lichtes im freien Raum hat Carpaccio wieder-
gegeben. Betrachtet man Einzelheiten aus dem
Ursulazyklus wie den Kopf der Heiligen im „Ab-
schied Ursulas“ (Abb. 50), so findet man hier
genau jene Art von Modellierung, mit leichten,
durchsichtig grauen Schatten, wie sie Piero
della Francesca zuerst in die italienische Ma-
lerei eingeführt hat.
Immer ist in Oberitalien eine ganz andere
Einheit der Gesamtraumstimmung, des von Licht
durchfluteten Raumes, sei es nun ein Innenraum
oder eine Landschaft zu bemerken. In Bildern,
die Figuren in Landschaft enthalten, sind die
Figuren ganz anders in die Landschaft hinein-
gezogen, die landschaftlichen Motive wirken
nicht so als Requisiten, wie dies oft nicht nur
in Florenz, sondern auch in Umbrien, bei Signo-
relli, der Fall ist, wo das Interesse allzusehr auf die Figuren konzentriert erscheint.
Die freie Lösung der Figuren voneinander im freien Raum war neben dem Einfluß
Piero della Francescas und seiner eigenartigen Lichtbehandlung vor allem Mantegnas Raum-
tendenz zu verdanken. Wie ausgeprägt ist schon in einem Frühwerk des gerade in seiner
Jugend so stark von Mantegna beeinflußten Giovanni Bellini, der Kreuzigung des Museo
Correr in Venedig, die Freiheit und Gelöstheit der Figuren. Geringere Maler dieser Zeit
haben diese Freiheit nicht ganz in dem gleichen Grade: in Bartolommeo Montagnas Bildern
bemerkt man oft ein eigentümliches Kleben der Fi-
guren am Bildrand, eine sehr ausgesprochene Un-
freiheit, man betrachte nur Montagnas Altartafel
in Berlin (Abb. 52); vollends im Cinquecento wird
das Verhältnis gegen früher ein umgekehrtes, ein
solches Verwachsensein, Nichtloskönnen vom Bild-
rand, wie wir es im Cinquecento bei dem Veroneser
Maler Girolamo dai Libri finden (Abb. 17), dürfte
in Florenz zur gleichen Zeit schwerlich vorkommen.
In engstem Zusammenhang mit der freien
Lösung der Figuren im Raum, wie sie Oberitalien,
vor allem Ferrara und Venedig, durch Piero della
Francesca vermittelt wurde, steht die Tektonik der
Einzelfigur. Man wird bei Piero della Francesca
eine ganz eigenartige, nicht selten ein wenig steife
und befangene, aber doch immer aufrechte und ent-
47. Cosimo Tura: Detail aus derAncona Rove-
rella“. London,Nationalgalerie (Phot.Hanfstaengi)