Einer für Alle.
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er dem Bürgermeister in's Gesicht und stürmt durch die Gasse.
Dieser zweite Mann war Würger, der Rechtsfreund. Herr
Fischer hatte das Blatt erkannt, als es ihm der Letztere vor
der Nase vorbeischwang, es war die „Allgemeine Zeitung."
Sollte eine Andeutung seines Sturzes bereits bis zu diesem
zuverläßigen Preßorgan gelangt sein? Wäre es so weit, daß
selbst Or. Kolb schon daran glaubte? Gewißheit! — Gewißheit
war im Casino zu haben. Er erreicht athemlos das Lesezimmer.
Niemand ist zugegen als Doktor Dorn und der steht am offnen
Fenster und späht mit einem Feldstecher hinüber nach Herrn
Fischers Haus. Schadenfreude las man auf seinem Gesichte,
als er verlegen den Eintrctmden grüßte. Dieser sucht mit
bebender Hand die „Allgemeine." — „Ist es wahr?" fragt er
— und Dorn antwortet: „Wahr, Louis Philippe ist vertrieben
und Frankreich — Republik." Herr Fischer setzte sich erschöpft
—- dann erhob er sich wieder, drückte dem Doktor die Hand
und sprach: „Ich danke Ihnen recht sehr für diese erfreuliche
Nachricht."
2.
Nach dem Februar kam der März und auch in X. wurde
es „schwülwie aller Orten in Deutschland. Herr Fischer
wog noch immer im Haupte sei» künftiges und des Bürger-
königs abgelaufenes Geschick und ging nie ohne einige Baar-
schaft und einen warmen Paletot aus dem Hause, um bei einer
zufälligen raschen Abreise nicht in die Berlegeuheiten jenes
hohen Reisenden zu gerathen. Roch immer sprach Würger's
Tagblatt von Vorabenden, ja sogar von Zeigern, die aus die
elfte Stunde wiesen. Ein Umsturz der bestehenden Ordnung
schien sich vorzuberciten, Leute von entschiedeucin Conscrvatismus
ftagten, was es Neues gebe und im schwarzen Mohren zeigten
sich bedenkliche Syniplome unter dem Halbdutzend Stamm-
gästen , schlichten Tagdieben, die man seit jüngster Zeit edle
Proletarier nannte.
Plötzlich kamen zwei, drei Briefe aus der Hauptstadt —
sehr unleserlich geschrieben, mitten unter der Revolution, welche
man daselbst veranstaltet hatte. Die Bürger der Residenz fanden,
daß auch ihnen der Regierung gegenüber einiges zu wünschen
übrig blieb, sie brachten diese Wünsche vor die Stufen des
Thrones, oder eigentlich die Fenster des Pallastes, darauf
Generalmarsch, Truppenausstellung, Bewaffnung des Volks mit
rostigen Musketen ohne Feuersteine, Errichtung einer Barrikade
aus einem Milchkarren und zwei Höckerstühlen, Deputationen,
Familienräthe, Sturmpelition — endlich Proclamation; Ver-
heißungen von sehr viele» und trefflichen Dingen, welche alle
als längst anerkannte Bedürsnisie dem getreuen Volke in der
Zukunst gewährt werden sollten, Offenheit und Vertrauen, Frei-
heit und Recht, Wohlfahrt und Gedeihen und Deutschland über
Alles! Die glorreichen Märztage sind ohne die geringste Stö-
rung zu allseitiger Befriedigung vor sich gegangen.
Diese Mähren — erschütternd und im höchsten Grade auf-
regend — durchirrten die Gaffen, die Häuser, die Köpfe und
Gemüther von X. Herr Fischer durchlebte dreimal vierund-
zwanzig Stunden auf einem Vulkane. Die letzte», flüchtigen
Residenzbriefe sprachen von einer gänzlichen Aenderung des
Systems. Er überlegte sich, ob er nicht durch ein freiwilliges
Abtreten dem Sturme zuvorkommen sollte. Schon sah er den
schwarzen Mohrenwirth vor sich, der auch von ihm eine Systems-
Aenderung begehrte. Am driften Tage, Abend, gerade als sich
vor dem Posthause Gruppen bildeten, Köchinnen und Ladeit-
diener, die auf die Post warteten, erschien mit dem Eilwagen
der Doktor Dorn. Er war in den drei Tagen zufällig in der
Hauptstadt gewesen. — Hastig sprang er aus dem Wagen, auf
seinem Hute steckte eine schwarz-roth-goldne Kokarde, einen sehr
großen Bogen Papier hatte er an seinem Stocke aufgehängt,
und damit eilte er nun die Straße hinab nach dem Platze, alle
Köchinnen, Lehrjungen und Ladendiener hinter ihm her, alle
rufend: „Constitution und Revolution!"
Herr Fischer, in dieser verhängnißvollen Post-Ankunftsstunde
seit kürzester Zeit einem leichten Wechselfieber unterworfen, ließ
sich eben von seiner Gattin und Tochter mit einem Warmbier
pflegen, als jählings die Wilden an seinen Mauern tobten.
„Nun haben wir's!" sagte er nicht ohne Größe in Ton und
Haltung, stellte die Taffe auf den Ofen und knöpfte den Schlaftock
dichter über sein ruhiges Gewiffen. Sofort nahm er am Sopha
Platz und putzte das Licht. Theodolinde war an's Fenster geeilt.—
„Ein Herr mit einer papiernen Fahne und sehr viele
Gaffenbuben kommen über den Platz," berichtete sie.
„Kennst Du ihn?" fragte ihr Vater.
„Ich glaube — es ist Doktor Dorn!"
„So bin ich verloren!" — lautete Herrn Fischers Antwort
voll Resignation.
Man pochte an die Thüre. „Herein!" — Doktor Dorn
tritt in's Zimmer, verbeugt sich und spricht: Herr Amtsbürger-
meister, hier bring' ich Ihnen das erste Exemplar der Prokla-
mation — ich selbst habe es auf der Barrikade erobert — wir
sind nun freie Bürger und Deutschland ist gerettet!"
Herr Fischer sah ihn lange an, er wußte nun doch nicht,
woran er war und sagte endlich: „Sie erlauben — das geht
ja mich nichts an!"
„Nichts — wenn es in der Residenz unser Fürst selbst
verkündet hat?"
„Schön — aber was soll ich damit in X. anfangen?"
„Ebenfalls dem Volke verkünden, daß es frei ist."
„Herr — welche Zumuthung?" —
„Thun Sie es — ehe es zu spät ist!" schloß Dorn.
Herr Fischer hatte von diesem „Zu spät" einiges unange-
nehme in den Zeitungen gelesen. Er rieb sich die Stirne, und
öffnete den Schlafrock, das Warmbier und hie Revolution wirk-
ten beide zugleich schweißtreibend.
„Ja — was machen?" fragte er wieder.
„Sie treten an's Fenster und sagen der Menge ein paar Worte I"
Im selben Augenblicke meldete sich diese ehrenwerthe, mora-
lische Person mit deutlichem Pereat-Rufen.
„Meinen Frack!" stammelte Herr Fischer — Gattin und
Tochter besorgte» die Umkleidung, Dorn riß das Fenster auf
und schob den Bürgermeister an die Brüstung. Er souflirte,
Herr Fischer sprach mit sichtlich bewegter Stimme:
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er dem Bürgermeister in's Gesicht und stürmt durch die Gasse.
Dieser zweite Mann war Würger, der Rechtsfreund. Herr
Fischer hatte das Blatt erkannt, als es ihm der Letztere vor
der Nase vorbeischwang, es war die „Allgemeine Zeitung."
Sollte eine Andeutung seines Sturzes bereits bis zu diesem
zuverläßigen Preßorgan gelangt sein? Wäre es so weit, daß
selbst Or. Kolb schon daran glaubte? Gewißheit! — Gewißheit
war im Casino zu haben. Er erreicht athemlos das Lesezimmer.
Niemand ist zugegen als Doktor Dorn und der steht am offnen
Fenster und späht mit einem Feldstecher hinüber nach Herrn
Fischers Haus. Schadenfreude las man auf seinem Gesichte,
als er verlegen den Eintrctmden grüßte. Dieser sucht mit
bebender Hand die „Allgemeine." — „Ist es wahr?" fragt er
— und Dorn antwortet: „Wahr, Louis Philippe ist vertrieben
und Frankreich — Republik." Herr Fischer setzte sich erschöpft
—- dann erhob er sich wieder, drückte dem Doktor die Hand
und sprach: „Ich danke Ihnen recht sehr für diese erfreuliche
Nachricht."
2.
Nach dem Februar kam der März und auch in X. wurde
es „schwülwie aller Orten in Deutschland. Herr Fischer
wog noch immer im Haupte sei» künftiges und des Bürger-
königs abgelaufenes Geschick und ging nie ohne einige Baar-
schaft und einen warmen Paletot aus dem Hause, um bei einer
zufälligen raschen Abreise nicht in die Berlegeuheiten jenes
hohen Reisenden zu gerathen. Roch immer sprach Würger's
Tagblatt von Vorabenden, ja sogar von Zeigern, die aus die
elfte Stunde wiesen. Ein Umsturz der bestehenden Ordnung
schien sich vorzuberciten, Leute von entschiedeucin Conscrvatismus
ftagten, was es Neues gebe und im schwarzen Mohren zeigten
sich bedenkliche Syniplome unter dem Halbdutzend Stamm-
gästen , schlichten Tagdieben, die man seit jüngster Zeit edle
Proletarier nannte.
Plötzlich kamen zwei, drei Briefe aus der Hauptstadt —
sehr unleserlich geschrieben, mitten unter der Revolution, welche
man daselbst veranstaltet hatte. Die Bürger der Residenz fanden,
daß auch ihnen der Regierung gegenüber einiges zu wünschen
übrig blieb, sie brachten diese Wünsche vor die Stufen des
Thrones, oder eigentlich die Fenster des Pallastes, darauf
Generalmarsch, Truppenausstellung, Bewaffnung des Volks mit
rostigen Musketen ohne Feuersteine, Errichtung einer Barrikade
aus einem Milchkarren und zwei Höckerstühlen, Deputationen,
Familienräthe, Sturmpelition — endlich Proclamation; Ver-
heißungen von sehr viele» und trefflichen Dingen, welche alle
als längst anerkannte Bedürsnisie dem getreuen Volke in der
Zukunst gewährt werden sollten, Offenheit und Vertrauen, Frei-
heit und Recht, Wohlfahrt und Gedeihen und Deutschland über
Alles! Die glorreichen Märztage sind ohne die geringste Stö-
rung zu allseitiger Befriedigung vor sich gegangen.
Diese Mähren — erschütternd und im höchsten Grade auf-
regend — durchirrten die Gaffen, die Häuser, die Köpfe und
Gemüther von X. Herr Fischer durchlebte dreimal vierund-
zwanzig Stunden auf einem Vulkane. Die letzte», flüchtigen
Residenzbriefe sprachen von einer gänzlichen Aenderung des
Systems. Er überlegte sich, ob er nicht durch ein freiwilliges
Abtreten dem Sturme zuvorkommen sollte. Schon sah er den
schwarzen Mohrenwirth vor sich, der auch von ihm eine Systems-
Aenderung begehrte. Am driften Tage, Abend, gerade als sich
vor dem Posthause Gruppen bildeten, Köchinnen und Ladeit-
diener, die auf die Post warteten, erschien mit dem Eilwagen
der Doktor Dorn. Er war in den drei Tagen zufällig in der
Hauptstadt gewesen. — Hastig sprang er aus dem Wagen, auf
seinem Hute steckte eine schwarz-roth-goldne Kokarde, einen sehr
großen Bogen Papier hatte er an seinem Stocke aufgehängt,
und damit eilte er nun die Straße hinab nach dem Platze, alle
Köchinnen, Lehrjungen und Ladendiener hinter ihm her, alle
rufend: „Constitution und Revolution!"
Herr Fischer, in dieser verhängnißvollen Post-Ankunftsstunde
seit kürzester Zeit einem leichten Wechselfieber unterworfen, ließ
sich eben von seiner Gattin und Tochter mit einem Warmbier
pflegen, als jählings die Wilden an seinen Mauern tobten.
„Nun haben wir's!" sagte er nicht ohne Größe in Ton und
Haltung, stellte die Taffe auf den Ofen und knöpfte den Schlaftock
dichter über sein ruhiges Gewiffen. Sofort nahm er am Sopha
Platz und putzte das Licht. Theodolinde war an's Fenster geeilt.—
„Ein Herr mit einer papiernen Fahne und sehr viele
Gaffenbuben kommen über den Platz," berichtete sie.
„Kennst Du ihn?" fragte ihr Vater.
„Ich glaube — es ist Doktor Dorn!"
„So bin ich verloren!" — lautete Herrn Fischers Antwort
voll Resignation.
Man pochte an die Thüre. „Herein!" — Doktor Dorn
tritt in's Zimmer, verbeugt sich und spricht: Herr Amtsbürger-
meister, hier bring' ich Ihnen das erste Exemplar der Prokla-
mation — ich selbst habe es auf der Barrikade erobert — wir
sind nun freie Bürger und Deutschland ist gerettet!"
Herr Fischer sah ihn lange an, er wußte nun doch nicht,
woran er war und sagte endlich: „Sie erlauben — das geht
ja mich nichts an!"
„Nichts — wenn es in der Residenz unser Fürst selbst
verkündet hat?"
„Schön — aber was soll ich damit in X. anfangen?"
„Ebenfalls dem Volke verkünden, daß es frei ist."
„Herr — welche Zumuthung?" —
„Thun Sie es — ehe es zu spät ist!" schloß Dorn.
Herr Fischer hatte von diesem „Zu spät" einiges unange-
nehme in den Zeitungen gelesen. Er rieb sich die Stirne, und
öffnete den Schlafrock, das Warmbier und hie Revolution wirk-
ten beide zugleich schweißtreibend.
„Ja — was machen?" fragte er wieder.
„Sie treten an's Fenster und sagen der Menge ein paar Worte I"
Im selben Augenblicke meldete sich diese ehrenwerthe, mora-
lische Person mit deutlichem Pereat-Rufen.
„Meinen Frack!" stammelte Herr Fischer — Gattin und
Tochter besorgte» die Umkleidung, Dorn riß das Fenster auf
und schob den Bürgermeister an die Brüstung. Er souflirte,
Herr Fischer sprach mit sichtlich bewegter Stimme: