108 Die Hallstädtertrottel.
für sie zu sorgen, bis ihre Angehörigen nach ihr fragm und sie
zurücknehmen würden.
Aber es vergingen Tage und Wochen, Niemand erschien.
Niemand wußte etwas von der alten Trottel. Es hatten sie
wohl die meisten Kirchgänger am Allerheiligenfest an der Kirch-
thüre bemerkt; allein Niemand hatte sich um sie bekümmert,
und wie sie dahin gekommen, woher, wer sie sei, wußte ebenfalls
Niemand.
In Klaras Häuschen gewöhnte man sich nach und nach sie
als Hausgenossin zu betrachten und sie wäre den zwei Bewoh-
nerinnen desiclben sogar sehr lieb geworden, hätte sie nicht man-
ches Unheimliche an sich gehabt, das sie zuweilen in Unruhe ver-
setzte. So war sie oft Stunden, ja halbe Tage lang abwesend,
oft bei tiefem Schnee oder erstarrender Kälte; aber Niemand
sah sie gehen. Niemand kommen. Niemand wußte, wo sie mittler-
weile gewesen. So war auch nicht zu begreifen, wovon sie lebte.
Sie nahm dankbar Alles an, was nian ihr reichte, nie aber sah
man sie etwas zu sich nehmen. Klara und ihre Mutter dach-
ten zuletzt, sic nehme nur Nahrung zu sich in der Zeit ihrer
Abwesenheit. Das Sonnenlicht schien sie nicht wohl ertragen
zu können. So wie die Sonne schien, schloß sie die Augen, und
beim Eintritt der Abenddämmerung ward sie munter. Uebrigens
war sie gutmüthig, und ihr altes verwittertes Gesicht hatte nicht
das Thierisch abstoßende der andern Trotteln. Ihre kleinen,
tiefiiegenden Augen blickten sogar ungewöhnlich klug, und sie
schien in hundert Fällen mit hellerm Wissen oder richtigerm
Instinkt begabt als andere Leute. Brachte sie der Ziege Kräuter
heim, die sie Gott weiß wo unter dem Schnee entdeckt, so gab ,
diese sicher nochmal so viel und bessere Milch. Ergriff sie die
Spindel, so spann sie in unbegreiflicher Schnelligkeit einen Faden
so gleich und fest, wie kaum die geübteste Spinnerin. Ein-
mal, bei ziemlich schönem Wetter, wollte Klara fort, um unter
den Tannen der Berghalde Reisig zu sammeln. Da klammerte
sich jdie Trottel ängstlich an das Mädchen, und warf sich ihr
endlich in den Weg, mit allen möglichen Geberden vor dem
Weitergehcn warnend. Klara gab nach und blieb. Bald darauf
brach ein Unwetter los, so fürchterlich, wie seit Jahren keines mehr
gewesen. Der Sturm entwurzelte die größten Tannen, daß sie
dalagen, wie vom Blitze gefällt oder in die Abgründe rollten.
Seit dieser Zeit ward die Trottel in dem kleinen Häuschen trotz
ihrer zwerghaften Gestalt und ihrer Höcker auf Rücken und Brust,
als ein wahrer Schutzengel betrachtet.
Man gewöhnte sich allmählig an ihre Sonderbarkeiten und
am Meisten trug wohl die sorgenvolle Lage der Mutter und
Tochter dazu bei, ihre Aufmerksamkeit von dem räthselhaften
Wesen und Treiben der Trottel abzulcnken, da Beider Gedanken
nothwendigerweise meist von dem eignen schweren Leide in An-
spruch genommen waren.
(Forschung folgt.).
Der seltene Frühling.
(Unlieb verspätet.)
Wenn der Winter ist gestorben.
Kommt der Frühling in das Land;
Schmilzt das Eis und löst die Flüsse
Mit dem bunten Blumenband.
Bäume schlagen aus; es thauen
Aus der Vöglein Sängerkehlen,
Und auf Wiesen und auf Bergen
Oeffnen sich die Blunienseelen.
Wenn der Frühling, wenn die Freiheit
Lacht am blauen Himmelsthor,
Waren sie die ersten, kamen
Stets den Menschen noch zuvor.
Doch in dieses Jahres Frühling
Waren sie die ersten nicht.
Zu begrüßen mit Frohlocken
Das befreite Sonenlicht.
Blumen brauchen nicht zu eilen,
Vöglein kann noch ruhig bleiben;
Und die Bäume brauchen Knospen
Noch so eilig nicht zu treiben.
Denn die sonst so späten Menschen,
Die so lang' im Schlafe lagen,
Haben diesmal, als die ersten,
Jubilirt und nusgeschlagen.
Haben aus- und eingeschlagen.
Fühlten sie die Sonne nah;
Trotz dem russischen Kalender
Ist der Frühlingsanfang da.
für sie zu sorgen, bis ihre Angehörigen nach ihr fragm und sie
zurücknehmen würden.
Aber es vergingen Tage und Wochen, Niemand erschien.
Niemand wußte etwas von der alten Trottel. Es hatten sie
wohl die meisten Kirchgänger am Allerheiligenfest an der Kirch-
thüre bemerkt; allein Niemand hatte sich um sie bekümmert,
und wie sie dahin gekommen, woher, wer sie sei, wußte ebenfalls
Niemand.
In Klaras Häuschen gewöhnte man sich nach und nach sie
als Hausgenossin zu betrachten und sie wäre den zwei Bewoh-
nerinnen desiclben sogar sehr lieb geworden, hätte sie nicht man-
ches Unheimliche an sich gehabt, das sie zuweilen in Unruhe ver-
setzte. So war sie oft Stunden, ja halbe Tage lang abwesend,
oft bei tiefem Schnee oder erstarrender Kälte; aber Niemand
sah sie gehen. Niemand kommen. Niemand wußte, wo sie mittler-
weile gewesen. So war auch nicht zu begreifen, wovon sie lebte.
Sie nahm dankbar Alles an, was nian ihr reichte, nie aber sah
man sie etwas zu sich nehmen. Klara und ihre Mutter dach-
ten zuletzt, sic nehme nur Nahrung zu sich in der Zeit ihrer
Abwesenheit. Das Sonnenlicht schien sie nicht wohl ertragen
zu können. So wie die Sonne schien, schloß sie die Augen, und
beim Eintritt der Abenddämmerung ward sie munter. Uebrigens
war sie gutmüthig, und ihr altes verwittertes Gesicht hatte nicht
das Thierisch abstoßende der andern Trotteln. Ihre kleinen,
tiefiiegenden Augen blickten sogar ungewöhnlich klug, und sie
schien in hundert Fällen mit hellerm Wissen oder richtigerm
Instinkt begabt als andere Leute. Brachte sie der Ziege Kräuter
heim, die sie Gott weiß wo unter dem Schnee entdeckt, so gab ,
diese sicher nochmal so viel und bessere Milch. Ergriff sie die
Spindel, so spann sie in unbegreiflicher Schnelligkeit einen Faden
so gleich und fest, wie kaum die geübteste Spinnerin. Ein-
mal, bei ziemlich schönem Wetter, wollte Klara fort, um unter
den Tannen der Berghalde Reisig zu sammeln. Da klammerte
sich jdie Trottel ängstlich an das Mädchen, und warf sich ihr
endlich in den Weg, mit allen möglichen Geberden vor dem
Weitergehcn warnend. Klara gab nach und blieb. Bald darauf
brach ein Unwetter los, so fürchterlich, wie seit Jahren keines mehr
gewesen. Der Sturm entwurzelte die größten Tannen, daß sie
dalagen, wie vom Blitze gefällt oder in die Abgründe rollten.
Seit dieser Zeit ward die Trottel in dem kleinen Häuschen trotz
ihrer zwerghaften Gestalt und ihrer Höcker auf Rücken und Brust,
als ein wahrer Schutzengel betrachtet.
Man gewöhnte sich allmählig an ihre Sonderbarkeiten und
am Meisten trug wohl die sorgenvolle Lage der Mutter und
Tochter dazu bei, ihre Aufmerksamkeit von dem räthselhaften
Wesen und Treiben der Trottel abzulcnken, da Beider Gedanken
nothwendigerweise meist von dem eignen schweren Leide in An-
spruch genommen waren.
(Forschung folgt.).
Der seltene Frühling.
(Unlieb verspätet.)
Wenn der Winter ist gestorben.
Kommt der Frühling in das Land;
Schmilzt das Eis und löst die Flüsse
Mit dem bunten Blumenband.
Bäume schlagen aus; es thauen
Aus der Vöglein Sängerkehlen,
Und auf Wiesen und auf Bergen
Oeffnen sich die Blunienseelen.
Wenn der Frühling, wenn die Freiheit
Lacht am blauen Himmelsthor,
Waren sie die ersten, kamen
Stets den Menschen noch zuvor.
Doch in dieses Jahres Frühling
Waren sie die ersten nicht.
Zu begrüßen mit Frohlocken
Das befreite Sonenlicht.
Blumen brauchen nicht zu eilen,
Vöglein kann noch ruhig bleiben;
Und die Bäume brauchen Knospen
Noch so eilig nicht zu treiben.
Denn die sonst so späten Menschen,
Die so lang' im Schlafe lagen,
Haben diesmal, als die ersten,
Jubilirt und nusgeschlagen.
Haben aus- und eingeschlagen.
Fühlten sie die Sonne nah;
Trotz dem russischen Kalender
Ist der Frühlingsanfang da.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der seltene Frühling"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 11.1850, Nr. 254, S. 108
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg