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Lüge und Wahrheit.
Als wie die Wahrheit, die zu schaden sucht!"
Denkwürdigkeiten einer Dichterin.
(Schluß.)
Noch hatte ich meinen vor Verblüffung und Schrecken stockenden
Athem nicht zu irgend einem abwehrenden Laute antreibcu können,
als auch schon der älteste der am Tische mit Stiefeln beschäftigten
Männer aufgesprungen war und sich mir mit drohenden Blicken näherte,
indem er einen Lederriemen in der nnsanbern Faust schwenkte.
„Die Lene," begann er in höchst unfeiner Betonung, „die Lene
ist bei Sie aus 'n Dienst jejangen, weil sie das Waschjeschirr kaput
jeschmissen hat und weil Ihr Mann zu ihr jesagt hat, sie war 4t
weibliches Rhinozeros, — Madame, ick bin der Vater von dies weib-
liche Rhinozeros, und das werd' ick Ihnen schon beweisen, und wenn
Sie hier am Ende >vol noch herjekommen
sind von wegen Schadenersatz, denn können
Sie sich leicht noch 4t andern Schaden bc-
sehn." —
Und während dieser abscheulichen Rede
war auch noch ein anderer der Männer
herangetreten und schrie: „Und denn haben
Sie zu die Lene jesagt, als sie das Kind
mit's kochende Wasser bejoß, sie war ’n janz
jefährliche Person ik bin der Bräutigam
von die janz jefährliche Person, und bet
will ik Ihnen sagen, Madame" —
„Um Himmelswillen", stammelte ich in
gewaltsamer Ermannuug, „ich bin ja gar
nicht die richtige Madame" —
„Nee, wahrhaftig", kreischte höchst nn-
artikulirt die unästhetische Frau, „Sie sind
keene richtige Madame, denn wnt'n richtige
Madame is, die läßt ihr Kind gar nicht
Denkwürdigkeiten einer Dichterin.
rein in der Küche, wenn da mit kochend Wasser 'rum-
hantirt wird." Dabei fuchtelte (verzeihe mir, liebste
Freundin, dieses unschöne Wort, aber es charakterisirt die
hier darzustellende Handlung doch am schärften), also die
Frau fuchtelte mir während ihrer höchst unzarten Rede in
erschreckender Weise mit dem Zeigefinger ihrer rechten
Hand vor den Augen herum, und >vcr weiß, zu welchen
moralischen oder gar, mich schaudert es zu denken, zu
welchen physischen Abscheulichkeiten sich die groben Menschen
noch hätten hinreißen lassen, wenn nicht in diesem Angen-
blicke ei» Mädchen eingetreten wäre, in dem mein nach
Rettung spähendes Auge sogleich die Tochter Lene zu er-
kennen hoffte, lind so war cs. In, in des Lebens
Wirrsal und Verkettung — bringt oft der Zusall uns
des Schicksals Rettung.
„Aha, da ist ja die Lene", rief die unästhetische
Frau, „hier is Dein Madamekeu, Kind, die >vill Dich
wieder holen oder so was."
„Ach tunt", murrte das unfreundlich mich anschaucnde
Mädchen, „bet is meine Madame nie jewescn!"
„Rich?!" schrie nun ihr Vater und schwang tvicder
den Lederriemen, „wat nhtzen Sie uns hier denn?"
„Ja, wat foppen Sie denn die Leute?" knirschte der
unfeine Bräutigam, und die Mutter fragte in grollendem
Tone: „Wat wollen Sic denn eejentlich von die Lene?"
In meiner Seele aber vermischten sich die Gefühle der
überstandenen Fährlichkeit und der Erwartung eines lang
und tief ersehnten freudigen Empfindens zu einem still-
süßen Accorde, und, mich emporschwingend in die
Bahnen des geflügelten Götterrosses, rccitirtc ich voll
eindringlichster Innigkeit den lautlos horchenden Menschen:
Berschtvtmdcn sittd die Stunden
lind so tveit — weit — weit
Ist dahin der Gewinn
Der köstlichen, herrlichen Zeit — Zeit — Zeit.
Lüge und Wahrheit.
Als wie die Wahrheit, die zu schaden sucht!"
Denkwürdigkeiten einer Dichterin.
(Schluß.)
Noch hatte ich meinen vor Verblüffung und Schrecken stockenden
Athem nicht zu irgend einem abwehrenden Laute antreibcu können,
als auch schon der älteste der am Tische mit Stiefeln beschäftigten
Männer aufgesprungen war und sich mir mit drohenden Blicken näherte,
indem er einen Lederriemen in der nnsanbern Faust schwenkte.
„Die Lene," begann er in höchst unfeiner Betonung, „die Lene
ist bei Sie aus 'n Dienst jejangen, weil sie das Waschjeschirr kaput
jeschmissen hat und weil Ihr Mann zu ihr jesagt hat, sie war 4t
weibliches Rhinozeros, — Madame, ick bin der Vater von dies weib-
liche Rhinozeros, und das werd' ick Ihnen schon beweisen, und wenn
Sie hier am Ende >vol noch herjekommen
sind von wegen Schadenersatz, denn können
Sie sich leicht noch 4t andern Schaden bc-
sehn." —
Und während dieser abscheulichen Rede
war auch noch ein anderer der Männer
herangetreten und schrie: „Und denn haben
Sie zu die Lene jesagt, als sie das Kind
mit's kochende Wasser bejoß, sie war ’n janz
jefährliche Person ik bin der Bräutigam
von die janz jefährliche Person, und bet
will ik Ihnen sagen, Madame" —
„Um Himmelswillen", stammelte ich in
gewaltsamer Ermannuug, „ich bin ja gar
nicht die richtige Madame" —
„Nee, wahrhaftig", kreischte höchst nn-
artikulirt die unästhetische Frau, „Sie sind
keene richtige Madame, denn wnt'n richtige
Madame is, die läßt ihr Kind gar nicht
Denkwürdigkeiten einer Dichterin.
rein in der Küche, wenn da mit kochend Wasser 'rum-
hantirt wird." Dabei fuchtelte (verzeihe mir, liebste
Freundin, dieses unschöne Wort, aber es charakterisirt die
hier darzustellende Handlung doch am schärften), also die
Frau fuchtelte mir während ihrer höchst unzarten Rede in
erschreckender Weise mit dem Zeigefinger ihrer rechten
Hand vor den Augen herum, und >vcr weiß, zu welchen
moralischen oder gar, mich schaudert es zu denken, zu
welchen physischen Abscheulichkeiten sich die groben Menschen
noch hätten hinreißen lassen, wenn nicht in diesem Angen-
blicke ei» Mädchen eingetreten wäre, in dem mein nach
Rettung spähendes Auge sogleich die Tochter Lene zu er-
kennen hoffte, lind so war cs. In, in des Lebens
Wirrsal und Verkettung — bringt oft der Zusall uns
des Schicksals Rettung.
„Aha, da ist ja die Lene", rief die unästhetische
Frau, „hier is Dein Madamekeu, Kind, die >vill Dich
wieder holen oder so was."
„Ach tunt", murrte das unfreundlich mich anschaucnde
Mädchen, „bet is meine Madame nie jewescn!"
„Rich?!" schrie nun ihr Vater und schwang tvicder
den Lederriemen, „wat nhtzen Sie uns hier denn?"
„Ja, wat foppen Sie denn die Leute?" knirschte der
unfeine Bräutigam, und die Mutter fragte in grollendem
Tone: „Wat wollen Sic denn eejentlich von die Lene?"
In meiner Seele aber vermischten sich die Gefühle der
überstandenen Fährlichkeit und der Erwartung eines lang
und tief ersehnten freudigen Empfindens zu einem still-
süßen Accorde, und, mich emporschwingend in die
Bahnen des geflügelten Götterrosses, rccitirtc ich voll
eindringlichster Innigkeit den lautlos horchenden Menschen:
Berschtvtmdcn sittd die Stunden
lind so tveit — weit — weit
Ist dahin der Gewinn
Der köstlichen, herrlichen Zeit — Zeit — Zeit.
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Lüge und Wahrheit" "Denkwürdigkeiten einer Dichterin"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum (normiert)
1886 - 1886
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 85.1886, Nr. 2150, S. 114
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg