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Der ungehorsame Engel.
blaß und still die Gestalt eines
kleinen Engels. Es war Werner's
verstorbenes Töchterlcin, welches
heute an der Schenke auf den Vater
wartete, wie cs früher Hunderte
Mal' an der Fabrik auf ihn ge-
wartet hatte.
„Binchen!" stotterte der Be-
trunkene.
„Ich bin gekommen. Dich zu
warnen, Vater!" sagte das Engelein
in Binchen's altem, süßen Ton. und
auf die Schenke deutend, fuhr es
fort: ,.O, geh' nicht mehr in dieses
Haus, Vater — mir zu Lieb'!"
Der Mann betrachtete das Kind
mit scheuer Bewunderung. „Wie
schön Du bist. Binchen! Wie schön Deine goldenen Flügel sind
und Dein weißes Kleid!" sagte er stolz, doch plötzlich sprach er
eifrig weiter: „Nur hier sind ein paar Flecken, ein paar häßliche
Flecken in Deinem Kleide. Binchen!"
„Das ist die Strafe fiir meinen Ungehorsam. Vater!" er-
widerte das Kind traurig. „Wir Engel sollen niemals den
Himmel verlassen, und doch, wenn ich Dich hierher gehen sehe,
kann ich nicht droben bleiben. Es sind nun zwei Flecken in
meinem Kleide, weil ich schon zweimal zu der Erde flog, um
mit Dir zu sprechen. Vater! Das erste Mal wartete ich die
ganze Zeit, welche ich hier sein kann, von zwölf bis eins, ver-
gebens auf Dich!"
„Ja ja. ich weiß es wohl, am letzten Zahltag trieben wir
es noch toller da drinnen, bis zum frühen Morgen!" murmelte
Werner, die Augen niederschlagend.
Das Kind aber fuhr fort: „Wenn ich nun aber noch ein-
mal hernnterfliegen muß. um Dich zu warnen. Vater, dann
bekomme ich auch noch den dritten Flecken in mein Kleid und
dann. Vater, dann — —"
„Nun dann. Binchen?"
„Dann darf ich nicht mehr mit den Anderen vor des lieben
Gottes Thron singen!" sagte
der kleine Engel zitternd.
Der Mann war in tiefster
Seele ergriffen. Er sank vor
feinem Kinde nieder und schwur
mit hocherhobener Hand: „Bei
dem allmächtigen Gott, Binchen.
Du sollst den dritten Flecken
nicht in Dein Kleid bekommen!"
In demselben Augenblicke
schlug es auf dem nahen Kirch-
ihurm eins und mit sanftem
Lächeln verschwand das Kind.
Werner hielt fein Wort. Ein-
mal. als seine Kameraden gar
zu heftig in ihn drangen, er
solle mit zur Schenke gehen, da sagte er ernst: „Nein. nein.
Mein Binchen darf sonst nicht mehr mitsingen im Himmels-
concert und das wäre jammerschade, denn sie hat von allen
Engelein die schönste Stimme!"
S e l b st b c w u ß t s e i n.
Kadett (der eben den ersten Helm gefaßt hat): „Nun flott UM
die Majorsecke herum. Willem, und der Moltke ist Dir sicher!
Der ungehorsame Engel.
blaß und still die Gestalt eines
kleinen Engels. Es war Werner's
verstorbenes Töchterlcin, welches
heute an der Schenke auf den Vater
wartete, wie cs früher Hunderte
Mal' an der Fabrik auf ihn ge-
wartet hatte.
„Binchen!" stotterte der Be-
trunkene.
„Ich bin gekommen. Dich zu
warnen, Vater!" sagte das Engelein
in Binchen's altem, süßen Ton. und
auf die Schenke deutend, fuhr es
fort: ,.O, geh' nicht mehr in dieses
Haus, Vater — mir zu Lieb'!"
Der Mann betrachtete das Kind
mit scheuer Bewunderung. „Wie
schön Du bist. Binchen! Wie schön Deine goldenen Flügel sind
und Dein weißes Kleid!" sagte er stolz, doch plötzlich sprach er
eifrig weiter: „Nur hier sind ein paar Flecken, ein paar häßliche
Flecken in Deinem Kleide. Binchen!"
„Das ist die Strafe fiir meinen Ungehorsam. Vater!" er-
widerte das Kind traurig. „Wir Engel sollen niemals den
Himmel verlassen, und doch, wenn ich Dich hierher gehen sehe,
kann ich nicht droben bleiben. Es sind nun zwei Flecken in
meinem Kleide, weil ich schon zweimal zu der Erde flog, um
mit Dir zu sprechen. Vater! Das erste Mal wartete ich die
ganze Zeit, welche ich hier sein kann, von zwölf bis eins, ver-
gebens auf Dich!"
„Ja ja. ich weiß es wohl, am letzten Zahltag trieben wir
es noch toller da drinnen, bis zum frühen Morgen!" murmelte
Werner, die Augen niederschlagend.
Das Kind aber fuhr fort: „Wenn ich nun aber noch ein-
mal hernnterfliegen muß. um Dich zu warnen. Vater, dann
bekomme ich auch noch den dritten Flecken in mein Kleid und
dann. Vater, dann — —"
„Nun dann. Binchen?"
„Dann darf ich nicht mehr mit den Anderen vor des lieben
Gottes Thron singen!" sagte
der kleine Engel zitternd.
Der Mann war in tiefster
Seele ergriffen. Er sank vor
feinem Kinde nieder und schwur
mit hocherhobener Hand: „Bei
dem allmächtigen Gott, Binchen.
Du sollst den dritten Flecken
nicht in Dein Kleid bekommen!"
In demselben Augenblicke
schlug es auf dem nahen Kirch-
ihurm eins und mit sanftem
Lächeln verschwand das Kind.
Werner hielt fein Wort. Ein-
mal. als seine Kameraden gar
zu heftig in ihn drangen, er
solle mit zur Schenke gehen, da sagte er ernst: „Nein. nein.
Mein Binchen darf sonst nicht mehr mitsingen im Himmels-
concert und das wäre jammerschade, denn sie hat von allen
Engelein die schönste Stimme!"
S e l b st b c w u ß t s e i n.
Kadett (der eben den ersten Helm gefaßt hat): „Nun flott UM
die Majorsecke herum. Willem, und der Moltke ist Dir sicher!
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Der ungehorsame Engel" "Selbstbewußtsein"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 87.1887, Nr. 2206, S. 166
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg