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Deutsche Kriegszeitung — 1917

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Hefte 35-39, September 1917
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8

Nummsr 39

d"re Ohrew, und als Wir st. dcmn direkt an-
sprachen, erzählten sie uns, daß auch sie,
wie wir, Flüchtlinge gewesen seien und
un der rumänischen Grenze der russischen
Polizei in die Hande gesallen seien.

Nach kurzem Aufenthalt ging es iu
zweistündiger Bahnfahrt weiter, bis wir
wieder auf der kleinen Statiou Oritschi
ankamrm An den Wänden der Station,
in der wir bis zum nächsten Tage ver-
bleiben sollten, wirnmelte es von Jn-
schristen, z. B.: „Kriegsgefangener Geiß-
ler, zwei Werst von der schwedischen
Grenze festgenornnren, hier übernachtet,
um morgen nach Orlow vor Gericht ge-
bracht zu werden." Gleich darunter
ständ: „Cand. med. hier übernachtet, habe
vierzehn Tage dicke gebrummt, weil ich
den mißliebig aufgesaßten Gesang
meiner hundert Kameraden dirigiert
habe. Wir sangen an den Ufern der
Wjatka ,Die Wacht am Nhein'."

Am nächsten Tage ging es zu Fuß die
dreiundzwanzig Werst nach Orlow
weiter. Dort angekommen, wurden wir
vorerst wieder in eine vor Ungeziefer
starrende Aelle gesperrt und nach etwa
zwei Stunden zum Jsprawnik, unserem
Alten, bekannten Augenroller, besohlen.
Zitternde Straschniks geleiteten uns in
die Höhle des Löwen; der saß hinter
seinem grünen Tisch, blickte, als wir ein-
traten, auf, rollte wütend mit d-en Augen
und brüllte: „Warum seid ihr aus-
gerissen?" Als wir nicht gleich antwor-
teten, richtete er sich in seiner ganzen im-
ponierenden Länge aus, kam an uns
heran und schrie uns dieselbe Frage noch
einmal zu, wobei er meinen kleineren
Kameraden sast mit seinem dicken Finger
erstach. Mich ließ er aus dem Spiel, ver-
mutlich weil ich ebenso groß war wie er
und ihm nicht gerade schüchtern in die
Augen sah. Jetzt faßte sich auch mein
Kamerad ein Herz und antwor-
Lete: „Weil wir nicht verhungern

wollten." „Jhr habt doch Unterstützung
bekommen!" kam ein neuer Einwand an-
gebrüllt. „Nein." „Dann sollt ihr sie
jetzt bekommen, führt sie nach dem süns-
ten Stan ab."

Wieder geleiteten uns die zitternden
Straschniks hinaus in unsere Zelle. Da
saßen wir nun und sahen uns dumm an.
Wir wollten ihm so vieles erzählen und
waren gar nicht zu Worte gekommen.
Wir hatten uns aus etwa drei Monate
Gefängnis gesaßt gemacht und wären
damit auch ganz zufrieden gewesen, der
Freispruch und die Ausweisung nach dem
sünften Stan schien uns die größte
Strafe.

Die letzten Papiere wurden uns noch
abgenommen, und am gleichen Abend
mußten wir zwöls Werst weiter, ohne
eine Kopeke Beköstigungsgeld erhalten
zu haben. Wir stolperten in der Dunkel-
heit vorwärts und verglichen demütig die
hiesigen Zustände mit denen in Ar-
changelsk. Dort waren wir fast keinen
Schritt zu Fuß gegangen, hatten unser
Verpflegungsgeld bekommen, hier im

Gouvernement Wjatka gab es nur
Hunger und bodenlose Wege. Was hätten
wir nur angefangen, wsnn ich mein Geld
nicht verborgen hätte. Bis Muraschi
waren es hunvmlzwanzig Werst.

Vom nächsten Tage an wurden wir
von Bauernpolizei geführt, und da wurde
die Sache allmählich gemütlicher. Die
gleichen Wege gingen wir, wie vor
einem Jahre, um die gleiche Zeit, durch
Dreck bei strömendem Regen. Wir kamen
durch Ortschaften, in denen bekannte
Kriegsgefangene wohnten, und wurden
von ihnen mit Geld und Lebensmitteln
versehen.

Jn Muraschi angekominen, empfing
uns die Polizei nicht gerade zärtlich. Nur
dadurch rächte sich der Pristaw, daß er
uns achtzig Werst weiter nach Prokop-
jefka, dem Verbannungsort des fünsten
Stan, schickte und wir die Nacht durch
auf den grundlosen russischen Straßen
weitermarsrsin.en mußten. Schliehlich
kamen wir nd^r auch dort an.

Jn der D u n k e l k a m m e r.

Wieder wie im vorigen Winter gönnte
man es uns nicht, ruhig an einem Orts
zu bleiben. Plötzlich mitten in der Nacht
hieß es zwölf Werst weiter. Zum Glück
kannten wir die russischen VerhäLnisse
schon einigermahen; wir taten also, als
ob wir nicht hörten, schliefen ruhig weiter
bis in den Morgen hinein, machten uns
dann ruhig an das Packen uniprer
wenigen Sachen und fuhren ^^ch-
mittag stolz in vielen Schlitten unserem
Bestimmungsort zu, während die zurück-
bleibenden Bauern uns traurig nach-
winkten, zog doch mit uns auch der gute
Verdienst, den sie gehabt hatten, weg.
Einige Russen heulten sogar, so sehr
hatten sie sich an uns gewöhnt. Der Un-
terschied in unserer Behandlung und un-
serer Lebensweisö war nur den paar
Rubeln, die jetzt von der Masse der her-
aeschickten Unterstützungsgelder sich auch
in diese abgelegene Gegend zu verirren
begannen, zu verdanken.

Jm großen und ganzen waren wir
herzlich froh, von unserem Straschnik los-
zukommen, hatten wir doch seit unserer
Ankunft hier stets im Streite mit ihm ge-
legen. Dank der Kriecherei der Polen
hatte er allmählich ein kleines Schreckens-
regiment eingeführt, und es paßte ihm
gar nicht in den Kram, daß jetzt zwei
Menschen gekommen waren, die auch
etwas von polizeilichen Erlässen ander-
wärts wußten. Eines abends z. B., als
wir um sechs Uhr beim Skat saßen —
Polizeistunds war neun Uhr —, kam er
zu uns herein und wollte unsere Mit-
spieler nach Hause jagen. Natürlich erhob
mein Kamerad als der Russisch Sprech-
ende Einspruch und verwies ihn auf die
Polizeistunde. Da fuhr der Straschnik
aus ihn los und ließ seine lang verhaltene
Wut an ihm aus. Mein Kamerad, nicht
faul, blieb keine Antwort schuldig, bis der
Straschnik, der schließlich fast blaurot ge-
worden war, den Säbel zog. Wir blieben

ruhig steheu, sahen uns nur an, blickten
dann zu ihm hinüber und von ihm weg
zum Backofen, aus dessen großer Öff-
nung feurige Glut strahlte. Ein paar
Worte stammelte er noch, dann war er
sichtlich ruhigcr, stierte uns entsetzt an,
wandte sich zum Backosen, starrte wie ge-
bannt auf die große Öfsnung, in die sein
Körper wohl geraoe zu passen schien, und
verschwand mit einem unterdrückten
Schrn uiÄ einem mächtigen Sprung aus
der Tür. Er hat uns nicht mehr beim
Skat gestört.

Seine Freunde, die Polen, kamen bald
weg, und das war für ihn sehr schmerz-
lich. Er wohnte nämlich über unserer
Stube, hatte er srüher etwas gewünscht,
dann trampelle er nur auf der Decke
herum, und sofort stürzte einer der kriegs-
gefangenen Polen hinaus, um sich nach
seinen Wünschen zu erkundigen; bei uns
mochte er sich ruhig zu Tode trampeln.
Mich sah er überhaupt immer von der
Seite nn, ungefähr-wie man ein zahmes
Raubtier betrachtet, von dem man nicht
weiß, ob es sich nicht im nällpien Augen-
blick brüllend auf sein Opfer stürzt. Seine
verschiedenen Aufforderungen, arbeiten
zu gehen, hatte ich immer wieder mit dem
langsn starren Backofenblick beantwortet,
der wirkte.

Jm Kirchdorf Sludky trafen wir wieder
alte Kameraden aus Muraschi und rich-
teten uns mit sechs Mann ein gemüt-
liches Quartier ein. Einer war abwech-
selnd Koch und bestimmte den Küchen-
zettel, der übrigens nicht sehr reichhaltig
war. Am häufigsten ersa-ien o-ase auf
unserem Tisch. Die Bauern singen die
Tiere nämlich nur ihres schönen, weißen
Felles wegen und überließen uns nur zu
gern um ein billiges das Fleisch, mit dem
sie ohnehin nichts anzusangen wußten.
Es dauerte auch nur wenige Tage, und
unser Koch hatte herausgesunden, daß
halbverbrannter Hase viel besser und
kräftiger schmecke als normaler. Jeden-
falls versocht er diese Ansicht mit einer
besseren Sache würdigem Eifer, als
gegenteilige Äußerungen hörbar
wurden. Allerdings ging es mir mit dem
ersten Brot, das ich buk, ganz ähnlich. Jch
sürchte, daß ein Teil des stattlichen Lai-
bes, den ich auf den Tisch brachte, noch
heute an der Decke der Bauernstube klebti
Mit dem anderen Teil, der auch nicht
verzehrt werden wollte, da alle Stuben-
kameraden sich scheuten, heranzugehen,
verfuhr ich teuflifch listig. Wir luden
uns eine Menge Kameraden ein und setz-
ten ihnen freudestrahlend Brot vor. Die
armen Kerle würgten und schluckten, die
Augen traten ihnen sast aus dem Kopfe,
sie schümten sich aber, das Gebotene
zurückzuweisen, und so verschwand ein
Stück nach dem anderen. Überhaupt
waren wir in gegenseitiger Beurteilung
unserer Kocherzeugnisse äußerst vorsich-
tig, man konnte ja nicht wissen, ob der
Fabrikant des zweifelhaften Erzeugnisses
nicht in berechtigtem, verletzten Künstler-
stolze etwa zum Kochtopf greifen und

seine Härte an den Köpsen der Stuben-
kameraden ausprobieren würde, so
schwieg man also und begnügte sich mit
den Blicken, die allerdings eine nur zu
deutliche Sprache redeten.

Kurz vor Weihnachten erhielten wir
endlich den Besuch des schon lange ange-
kündigten Jnspekteurs der amsrikanischen
Botschast. Es war ein ganz gemütlich
aussehender Mann, ein Deutsch-Ameri-
kaner namens Zeibich, der ganz entsetzt
über die Zustände tat und nicht begreifen
konnte, daß wir bei der furchtbaren Kälte
nicht mehr anzuziehen hätten. Er ver-
sprach uns allerlei, mehr Untsrstützungs-
gelder, Kleider, Decken, ließ auch eine
kleine Summe für die äußersten Notsälle
zurück und verschwand. Von all den
schönen Versprechungen traf natürlich
nichts ein.

So kam Weihnachten heran. Das Jahr
vorher war uns verboten worden, das
Fest zu feiern. Wir erwarteten das gleiche
Verbot wieder, ließen aber in der Hoff-
' nung auf das russischs Bummelwesen von
unseren Vorbereitungen nichts merken
und hatten mit diesem Verfahren auch
Ersolg. ' Wir seierten ein echtes, richti-
ges, deutsches Weihnachtsfest, das von
allen Bauern und der Polizei mit großen
Augen und ausgerissenen Mäulern be-
stauntwurde. Als wir dann nach zweiTa-
gen endlich gründlich ausgeseiert hatten,
siehe, da traf aus der Kreisstadt das poli-
zeiliche Verbot ein: „Bei Gefängnis-
strafe dürse Weihnachten von den Deut-
schen nicht gefeiert werden." Na, wir nah-
men uns das zu Herzen und feierten nicht
noch einmak.

Kurz nach Weihnachten erhielt ich die
Aufforderung, entweder zweihundert
Rubel zu bezahlen, oder als Sühne für
meine versuchte Flucht dr-ei Monate Ge-
fängnis abzubrummen. Jch brauche
wohl nicht erst zu betonen, daß ich mich
selbstverständlich sür letzteres entschied.
Abwechselung muß sein. Bevor ich aber
dazu kam, die Strafe abzusitzen, trat et-.
was Wichtiges dazwischen.

Der 27. Januar stand vor der Tür.
Dieser Tag mußte von uns unbe-
dingt festlich begangen werden.
Mit dem Geld war es ja allerdings ein
wenig knapp, da die Unterstützung schon
über einen Monat ausgeblieben war und
es an Arbeit in dem kleinen Dorfe man-
gelte. Die Herrsn Komiteemitglieder
in Wjatka hatten, wie man uns erzählte,
mit dem Unterstützungsgeld so unvorsich-
tig gewirtschaftet, daß es selbst den russi-
schen Behörden über die Schnur ging,
der Gouverneur dazwischenfuhr und ein
neues Komitee einsetzte.

Kurz und gut, einige von uns hatten
Geld erhalten, da jetzt endlich die Verbin-
dung mit der Heimat hergestellt war, so
daß wir unsere Vorbsreitungen tresfen
konnten. Mit den Bauern waren wir
im Einverständnis. Es wurde ein Faß
Bier gekocht, und wir erwarteten mit
Ruhe den Tag, der für uns ein hohes Fest
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