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Gesellschaft für Vervielfältigende Kunst [Hrsg.]
Die Graphischen Künste — N.F. 4.1939

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Voigt, Franz: Eine unbekannte Zeichnung des Hans Baldung Grien
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https://doi.org/10.11588/diglit.6339#0006
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unbedenklich übernommen und nochmals auf den jetzt rosa getönten Rand der Vorderseite
gesetzt.

Links vom Kopfe der Figur sind einige schattierende Hintergrund-Kreuzschraffuren in
Silberstift sichtbar, ebenso, allerdings nur sehr schwach erkennbar, in der linken unteren Ecke
über der leicht gedunkelten und faltigen Stelle des Blattes Andeutungen der Ferse des rechten
Fußes und der Wade darüber. Die Zeichnung war also zunächst in Silberstift flüchtig an-
gedeutet, um die Bewegung, die Verhältnisse, bzw. die Verteilung auf der Fläche festzulegen, um
dann sogleich mit der Rohrfeder ausgeführt zu werden, denn die einzelnen Federstriche tragen
ganz das Gepräge impulsiver Formgebung und der Ausdruck der Bewegung ist trotz des Man-
gels zweier Gliedmaßen im wesentlichen klar. Dagegen ist der Bildgedanke dieses studicnhaften
Entwurfs nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Die leidenschaftliche Erregtheit des riesenhaften
Mannes, seine Schreitbewegung, der stützende Pfahl lassen ohne weiteres an die Darstellungen
des hl. Christopherus denken. Der Sitz des Christuskindes und die Bewegung des rechten Armes
sind freilich unklar. Bleibt noch die geringe Möglichkeit eines Entwurfs für einen „Joseph auf
der Flucht", für den etwa der „Wanderstab" sprechen könnte, der an Stelle des bei den Christo-
phorus-Darstellungen üblichen Baumstumpfes mit wildem Wurzelwerk getreten ist. Aber selbst
ein Baidung möchte schwerlich diese riesenhafte, prometheisch sich gebärdende Erscheinung
einem hl. Joseph gegeben haben, die wie eine dunkle Vorstufe zu freiester Individuation, ähn-
lich seinen Hexen-Darstellungen, anmutet.

Für die Zeit der Entstehung dieser Zeichnung kommt man bei Baidung mit der Prüfung von
anatomisch Richtigem oder Falschem, von mehr oder weniger korrekter Behandlung des
Gegenständlichen nicht allzu weit, er liebt es, auch in späteren Jahren, die Form zu vernach-
lässigen oder bewußt zu vergewaltigen. Seine titanenhafte Natur treibt ihn sein Lebtag zu
künstlerischen Äußerungen, die selten frei sind von verwegener Ungebändigtheit, von irrealer
Phantastik, von eruptiver Dämonie. Und doch glauben wir, hier ein Jugendwerk vor uns zu
haben, nicht nur durch Sturm und Drang als solches gekennzeichnet. Eine gewisse Befangenheit
im Aufbau der Figur, in der plastischen Durchbildung bedeutet einen Atavismus in gotischen
Formvorstellungen. Dynamisch strebt der Riese, nach oben sich verjüngend, empor und die
Sprödigkeit der Linienführung, solange sie sich Baidung auch nach der Nürnberger Zeit noch
bewahrt hat, sie ist hier ursprünglicher. Man beachte die Kaskade des Ärmels und die Mantel-
falte auf dem Rücken. Später werden solche Formen gewandter, aber auch äußerlicher und
vor allem plastischer und renaissancehaft voller zum Vortrag gebracht. Der Ausdruck der Be-
wegung ist nicht minder vehement als auf dem großen Hexenblatt von 1510 und die Strich-
führung ist kaum weniger rhythmisch machtvoll als in der Zeichnung: Nicolaus von Bari von
1511, mit der die anaturalistische Kopfbehandlung gut vergleichbar ist, wenn dort das Ganze
auch souveräner in der Gestaltung ist. Der Abstand von dem allerdings über die Studie hinaus
gelangten fertigen Werk des großen michelangelesken Christopherus-Schnittes aus der gleichen
Zeit ist gar beträchtlich. Wir möchten in dieser unfertigen Zeichnung ein Tasten, ein Suchen
Baidungs nach sich selbst erblicken, wie es sich nach dem Verlassen Nürnbergs, nach dem Auf-
hören des unmittelbaren Einflusses Dürers geregt haben wird, denn mit der traditionsgebunde-
nen Kunst des Lautenbacher Altars hat sie doch nichts mehr gemein. Die künstlerische Gesin-
nung, die bei Baidung frühzeitig triebhaft sinnlich hervorbricht, nimmt hier eine entschiedene
Wendung zum Geistigen. Ein Strahl der Kunst Grünewalds muß ihn getroffen haben und hat
ihm die Zunge gelöst. Im Saturn von 1516 vielleicht kommt dann rein zum Ausdruck, was
Baidung bereits hier, etwa in den Jahren 1507—1510, bewegt hat.

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