Technik
Die durch die Struktur des Faches gegebene Treppentechnik wird verlassen; der Ab-
rundungseinschlag — ein Umwinden der Kettfäden — schmiegt sich vollkommen der
Form an. Abb. 28 zeigt den Vorgang. Bei den großen Figuren der Brüsseler Bild-
teppiche des 16. und 17. Jahrhunderts kommt übrigens die Abrundung für die schwarz-
braunen Umrißlinien kaum in Betracht, da deren Breite sich in der Regel über zwei
und mehr Kettfäden erstreckt und man es stets vermeidet, mehrere Abrundungsschüsse
übereinander zu legen. Die so einfach erscheinende Prozedur erfordert gewisse Übung;
der Faden darf nicht zu straff angezogen werden; er darf ebensowenig Buckel bilden.
Um ein Verrutschen auf der Kette zu vermeiden, erfolgt die Abrundung stets von
oben nach unten; das Ende des Fadens bleibt hängen.
Die Abarbeitung findet nicht lediglich Anwendung, wenn es sich um die periodische
Durchführung eines großen Farbenfleckes handelt, in ihrer zweiten Eigenart markiert
sie die Arbeitsabgrenzung der verschiedenen am Gezeug beschäftigten Wirker. Je
nach seiner Fähigkeit, je nach der Schwierigkeit der Patrone, kommt der eine oder
andere Geselle schneller vorwärts; er muß sein Gebiet seinem Nachbar gegenüber
schließen. Ist die Farbengebung einigermaßen günstig, so legt er eine Abarbeitung,
an die der Nachbar später anschließt. Das Verfahren ist künstlerisch insofern wenig
glücklich, als der benachbarte Wirker nicht immer die passende Anschlußnuance findet;
ein Farbenton, der einheitlich wirken soll, wird durch die Abarbeitungsschräge ohne
jeden Sinn in verschiedene Zonen zerlegt.
Die Grundlage der gesamten Struktur des Wandteppichs bilden die Schraffen,
„hachures", der Schraffierung der Zeichnung vergleichbar. In ihnen verkörpert sich
das technisch und künstlerisch wichtigste Prinzip der Bildwirkerei. Es ist vielleicht ein
Charakteristikum, daß Frühzeit und Spätzeit die Schraffentechnik nicht benutzen, sondern
in Nachahmung der Malerei mit nebeneinander gesetzten Farbenflecken operieren. Mit
dem Verlassen der Schraffentechnik stirbt die Bildwirkerei; das künstlerisch wert-
vollste Moment scheidet aus. Es ist schwer festzustellen, wann die Schraffentechnik
im Abendlande zum ersten Male zur Verwendung kam. Wahrscheinlich gab die
Miniaturmalerei den Anstoß. Ein Aufsatz der „Bibliotheque de l'ßcole des Chartres"
(1909, S. 275) bespricht die Miniaturendes Ms. lat, 49 (Petau45). In der „Geburt Christi"
(Fol. 105 v°) werden goldene Schraffen in allzu ausgiebiger Weise benutzt, um die
Lichter der Gewandfalten zu betonen.
Die Schraffen stellen die ureigenste Sprache des Wirkers dar. Nur mit ihrer Hilfe
vermag er die Umwertung der Palette des Malers zu erreichen, in ihnen verkörpert sich das
tiefste Können der Bildwirker der vergangenen Jahrhunderte. Wir müssen uns vergegen-
wärtigen, daß in d en guten Zeiten des Bildteppichs, im 15., 16., stellenweise noch im 17. Jahr-
hundert die Farben Vorschrift des Kartoniers sich, abgesehen von Notizen — fleischrot,
haarbraun usw. — auf einige wenige Töne beschränkte. Dem Wirker lag es ob, die Über-
gänge vom Licht zum Schatten durch eine dem Wesen der Technik angepaßte selbständige
Methode zu finden. Die Lösung ergab sich mit der Einführung der Schraffen. Als weiteres
Moment kommt hinzu, daß in den früheren Zeitabschnitten dem ausführenden Meister,
infolge des noch unvollkommen entwickelten Färbereiverfahrens, nur eine recht be-
schränkte Palette zur Verfügung stand. Der Wirker mußte notgedrungen die Schraffen-
technik bis zu den letzten Konsequenzen ausbauen, wollte er mit seinen wenigen
Farbentönen die gewünschte Wirkung erzielen. Je reicher, je durchdachter der Meister
die Schraffen handhabte, um so mehr Zwischentöne blühten auf, um so farbenfroher
ward der Teppich.
Die Schraffen laufen annähernd im rechten Winkel zum Kettenfach, ein wesentlicher
Grund, die Figuren des Wandteppichs liegend zu wirken. Die Zweckmäßigkeit dieser
Anordnung wird durch eine weitere technische Eigenart unterstrichen. Jede Gestalt,
jeder Baum, jede Architektur zeigt in überwiegendem Maße senkrechte Linien. Wird
die Methode des Querwirkens verlassen, die Gestalt oder der Baum also parallel zum
Kettfach gearbeitet, so entstehen eine Unzahl Schlitze, die neben der ungewohnten
2 Göbel, Wandteppiche.
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Die durch die Struktur des Faches gegebene Treppentechnik wird verlassen; der Ab-
rundungseinschlag — ein Umwinden der Kettfäden — schmiegt sich vollkommen der
Form an. Abb. 28 zeigt den Vorgang. Bei den großen Figuren der Brüsseler Bild-
teppiche des 16. und 17. Jahrhunderts kommt übrigens die Abrundung für die schwarz-
braunen Umrißlinien kaum in Betracht, da deren Breite sich in der Regel über zwei
und mehr Kettfäden erstreckt und man es stets vermeidet, mehrere Abrundungsschüsse
übereinander zu legen. Die so einfach erscheinende Prozedur erfordert gewisse Übung;
der Faden darf nicht zu straff angezogen werden; er darf ebensowenig Buckel bilden.
Um ein Verrutschen auf der Kette zu vermeiden, erfolgt die Abrundung stets von
oben nach unten; das Ende des Fadens bleibt hängen.
Die Abarbeitung findet nicht lediglich Anwendung, wenn es sich um die periodische
Durchführung eines großen Farbenfleckes handelt, in ihrer zweiten Eigenart markiert
sie die Arbeitsabgrenzung der verschiedenen am Gezeug beschäftigten Wirker. Je
nach seiner Fähigkeit, je nach der Schwierigkeit der Patrone, kommt der eine oder
andere Geselle schneller vorwärts; er muß sein Gebiet seinem Nachbar gegenüber
schließen. Ist die Farbengebung einigermaßen günstig, so legt er eine Abarbeitung,
an die der Nachbar später anschließt. Das Verfahren ist künstlerisch insofern wenig
glücklich, als der benachbarte Wirker nicht immer die passende Anschlußnuance findet;
ein Farbenton, der einheitlich wirken soll, wird durch die Abarbeitungsschräge ohne
jeden Sinn in verschiedene Zonen zerlegt.
Die Grundlage der gesamten Struktur des Wandteppichs bilden die Schraffen,
„hachures", der Schraffierung der Zeichnung vergleichbar. In ihnen verkörpert sich
das technisch und künstlerisch wichtigste Prinzip der Bildwirkerei. Es ist vielleicht ein
Charakteristikum, daß Frühzeit und Spätzeit die Schraffentechnik nicht benutzen, sondern
in Nachahmung der Malerei mit nebeneinander gesetzten Farbenflecken operieren. Mit
dem Verlassen der Schraffentechnik stirbt die Bildwirkerei; das künstlerisch wert-
vollste Moment scheidet aus. Es ist schwer festzustellen, wann die Schraffentechnik
im Abendlande zum ersten Male zur Verwendung kam. Wahrscheinlich gab die
Miniaturmalerei den Anstoß. Ein Aufsatz der „Bibliotheque de l'ßcole des Chartres"
(1909, S. 275) bespricht die Miniaturendes Ms. lat, 49 (Petau45). In der „Geburt Christi"
(Fol. 105 v°) werden goldene Schraffen in allzu ausgiebiger Weise benutzt, um die
Lichter der Gewandfalten zu betonen.
Die Schraffen stellen die ureigenste Sprache des Wirkers dar. Nur mit ihrer Hilfe
vermag er die Umwertung der Palette des Malers zu erreichen, in ihnen verkörpert sich das
tiefste Können der Bildwirker der vergangenen Jahrhunderte. Wir müssen uns vergegen-
wärtigen, daß in d en guten Zeiten des Bildteppichs, im 15., 16., stellenweise noch im 17. Jahr-
hundert die Farben Vorschrift des Kartoniers sich, abgesehen von Notizen — fleischrot,
haarbraun usw. — auf einige wenige Töne beschränkte. Dem Wirker lag es ob, die Über-
gänge vom Licht zum Schatten durch eine dem Wesen der Technik angepaßte selbständige
Methode zu finden. Die Lösung ergab sich mit der Einführung der Schraffen. Als weiteres
Moment kommt hinzu, daß in den früheren Zeitabschnitten dem ausführenden Meister,
infolge des noch unvollkommen entwickelten Färbereiverfahrens, nur eine recht be-
schränkte Palette zur Verfügung stand. Der Wirker mußte notgedrungen die Schraffen-
technik bis zu den letzten Konsequenzen ausbauen, wollte er mit seinen wenigen
Farbentönen die gewünschte Wirkung erzielen. Je reicher, je durchdachter der Meister
die Schraffen handhabte, um so mehr Zwischentöne blühten auf, um so farbenfroher
ward der Teppich.
Die Schraffen laufen annähernd im rechten Winkel zum Kettenfach, ein wesentlicher
Grund, die Figuren des Wandteppichs liegend zu wirken. Die Zweckmäßigkeit dieser
Anordnung wird durch eine weitere technische Eigenart unterstrichen. Jede Gestalt,
jeder Baum, jede Architektur zeigt in überwiegendem Maße senkrechte Linien. Wird
die Methode des Querwirkens verlassen, die Gestalt oder der Baum also parallel zum
Kettfach gearbeitet, so entstehen eine Unzahl Schlitze, die neben der ungewohnten
2 Göbel, Wandteppiche.
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