Deutung
behandelt den urewigen Kampf der irrenden Menschenseele, die von guten und bösen
Mächten beherrscht, den richtigen Weg sucht. Es bringt in volkstümlicherem Gewände
den gleichen Gedankengang, der in dem Kampfe der Tugenden und Laster in pathetisch-
dramatische Form gegossen wird. Die zahlreichen frühen und späten pantomimischen
und dramatischen Vorführungen, die bisweilen einen frivolen Charakter annehmen,
bürgern das ohnehin beliebte Motiv noch mehr ein. Das Thema verlockt in besonders
starkem Maße zu lasziven Darstellungen; das moralische Mäntelchen verhüllt nur schlecht
die Absicht. Bisweilen fehlt die belehrende Tendenz überhaupt, wie in dem „Tanz-
teppich" der Notre-Dame-Kirche zu Nantilly, der die wilden Frauen mit prächtigen
Hennins ausstattet und die nackten Brüste keck aus zottigem Felle hervorlugen läßt.
Eine Anspielung auf das berüchtigte „ballet des Ardents", das Karl VI. endgültig in die
Nacht des Wahnsinns stieß und drei seiner Freunde das Leben kostete, liegt nicht vor.
Entgleisungen schlimmerer Art gehören bei Wandteppichen zu den Seltenheiten.
Ganz ausgeblieben sind sie nicht. Der „tappiz vermeil de gros fil, ä deux personnages,
dont l'un pisse en une orine" im Inventar Karls VI. von Frankreich zeugt nicht gerade
von feinfühliger Auffassung.
Die Ikonographie der Wilden Männer hat in erster Linie Bedeutung für die frühen
deutschen und schweizerischen Teppiche; eine eingehendere Würdigung bleibt dem
dritten Bande meiner „Wandteppiche" vorbehalten. Das Motiv ist übrigens kein rein
deutsches, wir finden Wildmännerteppiche in zahlreichen frühen französischen, italie-
nischen und englischen Inventaren. Die erotische Symbolik hält sich auf deutschem
Gebiete am längsten, in den romanischen Ländern sinken die „hommes sauvages" zum
reinen Dekorationsmittel herab. So befindet sich 1483 auf Schloß Amboise „une cham-
bre de verdure de fine estoffe ä petiz hommes sauvaiges____ft; die wilden Männer er-
setzen hier die sonst üblichen Kaninchen, Vögel und anderes Getier.
Ein weites Gebiet umspannen die Jagdteppiche, sie bleiben von den frühesten Zeiten
bis zum Erlöschen der Bildwirkerei beliebt und begehrt.
Die Inventare bringen in der Regel wenig Einzelheiten, sie beschränken sich auf
allgemein gehaltene Angaben. „A chasse et volerie" oder „ung tappiz de chambre, de
gros file sur champ vert herbu, a ung che valier, une dame, ung faucon sur une perche"
besagt nicht allzu viel. Es haben sich verhältnismäßig zahlreiche Jagdteppiche erhalten;
die Tournaiser Behänge des Herzogs von Devonshire auf Hardwicke Hall, die in vier
riesigen Bildwirkereien die verschiedensten Jagdarten — Eber-, Reh- und Bärenhatz,
Enten-, Schwanen-, Reiher- und Adlerbeize — in reichen farbenprächtigen Szenen
schildern, dürften in erster Linie zu nennen sein (Abb. 202,203). Das Fragment im Museum
zu Minneapolis geht auf das engste mit der Hardwicke Hall-Folge zusammen (Abb. 204).
Im gleichen Ideenkreise bewegen sich verschiedene Behänge im Rathause zu Regens-
burg (Abb. 206) und das Fragment der Notre-Dame-Kirche zu Nantilly. Die eingehende
technische und künstlerische Würdigung der Stücke bringt der Abschnitt „Tournai".
Maßgebend für die vorliegende Besprechung ist lediglich der Zusammenhang der Folgen
mit der zeitgenössischen Literatur, die den Leitfaden gibt.
Das 14. und 15. Jahrhundert ist beherrscht von einer systematisch betriebenen Jagd-
leidenschaft, für die dem modernen Menschen der rechte BegrifF fehlt. Minne, Turnier,
Jagd und Spiel sind die einzigen rittermäßigen Beschäftigungen. Es bildet sich eine
regelrechte Jagdetikette heraus, die bei dem vornehmen Stutzer, dem „coquin", in der
dem Laien fremden, von technischen Ausdrücken gespickten Sprechweise, der „Falken-
sprache", einen Höhepunkt erreicht. „Cest im plaisir ä part que la volerie, et c'est
un parier royal que de savoir parier du vol des oiseaux. Tout le monde en parle,
mais peu de gens en parlent bien et font pitie ä ceux qui les ecoutent. Tantöt cesluy-
cy dit la main de l'oiseau au lieu de la serre, tantöt la serre au lieu de la griffe ou
bien de l'ongle et du crochet" (71).
Die französische Jagdliteratur nimmt in den Bibliotheken der burgundischen Herzöge
einen weiten Raum ein; sie bringt neue Ideen im wesentlichen nur auf dem Gebiete
des Weidwerks. Die zahllosen Falkenbücher gehen in der großen Mehrzahl auf orien-
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behandelt den urewigen Kampf der irrenden Menschenseele, die von guten und bösen
Mächten beherrscht, den richtigen Weg sucht. Es bringt in volkstümlicherem Gewände
den gleichen Gedankengang, der in dem Kampfe der Tugenden und Laster in pathetisch-
dramatische Form gegossen wird. Die zahlreichen frühen und späten pantomimischen
und dramatischen Vorführungen, die bisweilen einen frivolen Charakter annehmen,
bürgern das ohnehin beliebte Motiv noch mehr ein. Das Thema verlockt in besonders
starkem Maße zu lasziven Darstellungen; das moralische Mäntelchen verhüllt nur schlecht
die Absicht. Bisweilen fehlt die belehrende Tendenz überhaupt, wie in dem „Tanz-
teppich" der Notre-Dame-Kirche zu Nantilly, der die wilden Frauen mit prächtigen
Hennins ausstattet und die nackten Brüste keck aus zottigem Felle hervorlugen läßt.
Eine Anspielung auf das berüchtigte „ballet des Ardents", das Karl VI. endgültig in die
Nacht des Wahnsinns stieß und drei seiner Freunde das Leben kostete, liegt nicht vor.
Entgleisungen schlimmerer Art gehören bei Wandteppichen zu den Seltenheiten.
Ganz ausgeblieben sind sie nicht. Der „tappiz vermeil de gros fil, ä deux personnages,
dont l'un pisse en une orine" im Inventar Karls VI. von Frankreich zeugt nicht gerade
von feinfühliger Auffassung.
Die Ikonographie der Wilden Männer hat in erster Linie Bedeutung für die frühen
deutschen und schweizerischen Teppiche; eine eingehendere Würdigung bleibt dem
dritten Bande meiner „Wandteppiche" vorbehalten. Das Motiv ist übrigens kein rein
deutsches, wir finden Wildmännerteppiche in zahlreichen frühen französischen, italie-
nischen und englischen Inventaren. Die erotische Symbolik hält sich auf deutschem
Gebiete am längsten, in den romanischen Ländern sinken die „hommes sauvages" zum
reinen Dekorationsmittel herab. So befindet sich 1483 auf Schloß Amboise „une cham-
bre de verdure de fine estoffe ä petiz hommes sauvaiges____ft; die wilden Männer er-
setzen hier die sonst üblichen Kaninchen, Vögel und anderes Getier.
Ein weites Gebiet umspannen die Jagdteppiche, sie bleiben von den frühesten Zeiten
bis zum Erlöschen der Bildwirkerei beliebt und begehrt.
Die Inventare bringen in der Regel wenig Einzelheiten, sie beschränken sich auf
allgemein gehaltene Angaben. „A chasse et volerie" oder „ung tappiz de chambre, de
gros file sur champ vert herbu, a ung che valier, une dame, ung faucon sur une perche"
besagt nicht allzu viel. Es haben sich verhältnismäßig zahlreiche Jagdteppiche erhalten;
die Tournaiser Behänge des Herzogs von Devonshire auf Hardwicke Hall, die in vier
riesigen Bildwirkereien die verschiedensten Jagdarten — Eber-, Reh- und Bärenhatz,
Enten-, Schwanen-, Reiher- und Adlerbeize — in reichen farbenprächtigen Szenen
schildern, dürften in erster Linie zu nennen sein (Abb. 202,203). Das Fragment im Museum
zu Minneapolis geht auf das engste mit der Hardwicke Hall-Folge zusammen (Abb. 204).
Im gleichen Ideenkreise bewegen sich verschiedene Behänge im Rathause zu Regens-
burg (Abb. 206) und das Fragment der Notre-Dame-Kirche zu Nantilly. Die eingehende
technische und künstlerische Würdigung der Stücke bringt der Abschnitt „Tournai".
Maßgebend für die vorliegende Besprechung ist lediglich der Zusammenhang der Folgen
mit der zeitgenössischen Literatur, die den Leitfaden gibt.
Das 14. und 15. Jahrhundert ist beherrscht von einer systematisch betriebenen Jagd-
leidenschaft, für die dem modernen Menschen der rechte BegrifF fehlt. Minne, Turnier,
Jagd und Spiel sind die einzigen rittermäßigen Beschäftigungen. Es bildet sich eine
regelrechte Jagdetikette heraus, die bei dem vornehmen Stutzer, dem „coquin", in der
dem Laien fremden, von technischen Ausdrücken gespickten Sprechweise, der „Falken-
sprache", einen Höhepunkt erreicht. „Cest im plaisir ä part que la volerie, et c'est
un parier royal que de savoir parier du vol des oiseaux. Tout le monde en parle,
mais peu de gens en parlent bien et font pitie ä ceux qui les ecoutent. Tantöt cesluy-
cy dit la main de l'oiseau au lieu de la serre, tantöt la serre au lieu de la griffe ou
bien de l'ongle et du crochet" (71).
Die französische Jagdliteratur nimmt in den Bibliotheken der burgundischen Herzöge
einen weiten Raum ein; sie bringt neue Ideen im wesentlichen nur auf dem Gebiete
des Weidwerks. Die zahllosen Falkenbücher gehen in der großen Mehrzahl auf orien-
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