Deutung
Die Gacesche Dichtung bringt als Einleitung den Zug der Tugenden und Laster,
^Honneur" führt den Reigen. Das Thema ist bereits mehrfach literarisch behandelt
worden, so daß eine auf die Ikonographie unserer Bildteppiche zugeschnittene Zu-
sammenfassung und Ergänzung genügen dürfte.
Ähnlich wie die vier Temperamente werden Tugenden und Laster mit gewissen
Symbolen und charakterisierenden Abzeichen ausgestattet. Wir unterscheiden die drei
theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung und die vier Haupttugenden, Stärke,
Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Klugheit. Die grundlegende Quelle stellt die Psychomachie
des Prudentius dar. Das um 400 n. Chr. entstandene allegorische Epos personifiziert
die guten und bösen Gewalten, die in erbitterten Kämpfen um die Seele des Erden-
pilgers ringen; so streitet Pudicitia gegen Libido, Fides gegen Idolatria (vetus Cultura
deorum), Patientia gegen Ira, Superbia gegen Humilitas. Die Gegnerinnen erscheinen
zu Fuß, zu Roß — wie Superbia —, oder auf prächtigem Wagen mit zahlreichem
Geleite, wie Luxuria. Der uAnticlaudianus" des Alain de Lille, uDe conflictu vitiorum
et virtutum", angeblich von Gregor dem Großen, und der «Hortus deliciarum" der
Herrad von Landsberg nehmen den Gedankengang auf. Huon de Mery's „Tournoie-
ment de 1'Antichrist" (um 1255) läßt den Heiland als Kämpen und Führer alles Guten
in Erscheinung treten. Der Entwicklungsgang ist trotz zahlreicher Publikationen nicht
völlig geklärt. Es scheint, als wenn der erste Anstoß zu der eigenartigen, bisweilen
fratzenhaft anmutenden Ausrüstung der Tugenden und Laster, der für unsere Bild-
teppiche in erster Linie in Frage kommt, von einem grübelnden Geistlichen erfunden,
in deutschen Landen die weitere Durchbildung erfahren hat. Die französische Version
gibt sich wesentlich maßvoller. Verschiedene Dichtungen des 14 Jahrhunderts, wie
die „Pelerinage de la vie humaine" des Guillaume de Deguilleville oder die KSomme
le Roi" teilen den allegorischen Gestalten charakteristische Reittiere zu. Emile Male
stützt sich für den durchgebildeten Typ im wesentlichen auf ein französisches Manu-
skript der Pariser Nationalbibliothek, das um 1390 entstanden sein dürfte. Den „Stolz"
trägt ein Löwe, auf der Hand hält der junge Herrscher den Adler; der Neid wird
durch einen Mönch repräsentiert, der auf einem Hunde reitet, auf der Faust den Sperber.
Ira — eine Frauengestalt — sitzt auf dem Eber, der Hahn ist ihr Sinnbild. Die Faul-
heit — ein Mann aus dem Volke — hockt auf dem Esel, sein Symbol ist die Eule.
Der Geiz tritt als Kaufmann auf. Sein Reittier ist der Dachs, sein Zeichen die Stein-
eule. Die Gefräßigkeit — ein stutzerhafter Jüngling — reitet auf dem Wolfe, auf der
Faust die Weihe. Luxuria hat die Ziege als Reittier und die Taube als Wahrzeichen
erwählt.
Die naheliegende Idee, die Tugenden und Laster den Kampf in Gestalt eines Tur-
niers austragen zu lassen, ringt sich in Frankreich erst verhältnismäßig spät durch. Von
besonderer Bedeutung ist ein lateinisches Manuskript im Besitze der Stiftsbibliothek
Vorau in Steiermark (74). uLumen animae, tractatus de Septem vitiis es virtutibus"
schrieb «Gotfridus canonicus et confrater noster ecclesie nostre Vorowensi... im
Jahre des Heils 1332. Der Hauptwert der Arbeit liegt darin, daß unser Kanonikus
die Tugenden und Laster, deren heiße Kämpfe er schildert, durch nicht ungeschickt
mit brauner Tinte gezeichnete Skizzen erläutert. Wir erblicken die allegorischen Ge-
stalten als schwer gewappnete Ritter auf symbolischen Reittieren. Den Angriff er-
öffnen die Tugenden, die mit eingelegten Turnierlanzen gegen die Laster anrennen,
die den wappengeschmückten Schild abwehrend vorhalten. Superbia, in der Faust
das blanke Schwert, sitzt auf einem Dromedar — super Dromedario —, das in der
Zeichnung vorsichtshalber als Hengst wiedergegeben ist, der Schild trägt als Symbol
den Adler, die Helmzier zeigt den Pfau, der Waffenrock den Löwen. Luxuria sprengt
auf einem Bären einher, in der Hand einen goldenen Pokal. Das Wappenschild trägt
die zweischwänzige Sirene. Ein Rosenkranz, auf dem ein Vogelpärchen sitzt, ziert
den Stechhelm, der Basilisk den Waffenrock. Der Geiz, den Geldsack auf dem Rücken,
sitzt auf dem sagenhaften Oryx, der in der Zeichnung als eine Mischung von Löwe
und Esel erscheint. Im Schilde prangt ein sitzendes Eichhörnchen, auf dem Helme hockt
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Die Gacesche Dichtung bringt als Einleitung den Zug der Tugenden und Laster,
^Honneur" führt den Reigen. Das Thema ist bereits mehrfach literarisch behandelt
worden, so daß eine auf die Ikonographie unserer Bildteppiche zugeschnittene Zu-
sammenfassung und Ergänzung genügen dürfte.
Ähnlich wie die vier Temperamente werden Tugenden und Laster mit gewissen
Symbolen und charakterisierenden Abzeichen ausgestattet. Wir unterscheiden die drei
theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung und die vier Haupttugenden, Stärke,
Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Klugheit. Die grundlegende Quelle stellt die Psychomachie
des Prudentius dar. Das um 400 n. Chr. entstandene allegorische Epos personifiziert
die guten und bösen Gewalten, die in erbitterten Kämpfen um die Seele des Erden-
pilgers ringen; so streitet Pudicitia gegen Libido, Fides gegen Idolatria (vetus Cultura
deorum), Patientia gegen Ira, Superbia gegen Humilitas. Die Gegnerinnen erscheinen
zu Fuß, zu Roß — wie Superbia —, oder auf prächtigem Wagen mit zahlreichem
Geleite, wie Luxuria. Der uAnticlaudianus" des Alain de Lille, uDe conflictu vitiorum
et virtutum", angeblich von Gregor dem Großen, und der «Hortus deliciarum" der
Herrad von Landsberg nehmen den Gedankengang auf. Huon de Mery's „Tournoie-
ment de 1'Antichrist" (um 1255) läßt den Heiland als Kämpen und Führer alles Guten
in Erscheinung treten. Der Entwicklungsgang ist trotz zahlreicher Publikationen nicht
völlig geklärt. Es scheint, als wenn der erste Anstoß zu der eigenartigen, bisweilen
fratzenhaft anmutenden Ausrüstung der Tugenden und Laster, der für unsere Bild-
teppiche in erster Linie in Frage kommt, von einem grübelnden Geistlichen erfunden,
in deutschen Landen die weitere Durchbildung erfahren hat. Die französische Version
gibt sich wesentlich maßvoller. Verschiedene Dichtungen des 14 Jahrhunderts, wie
die „Pelerinage de la vie humaine" des Guillaume de Deguilleville oder die KSomme
le Roi" teilen den allegorischen Gestalten charakteristische Reittiere zu. Emile Male
stützt sich für den durchgebildeten Typ im wesentlichen auf ein französisches Manu-
skript der Pariser Nationalbibliothek, das um 1390 entstanden sein dürfte. Den „Stolz"
trägt ein Löwe, auf der Hand hält der junge Herrscher den Adler; der Neid wird
durch einen Mönch repräsentiert, der auf einem Hunde reitet, auf der Faust den Sperber.
Ira — eine Frauengestalt — sitzt auf dem Eber, der Hahn ist ihr Sinnbild. Die Faul-
heit — ein Mann aus dem Volke — hockt auf dem Esel, sein Symbol ist die Eule.
Der Geiz tritt als Kaufmann auf. Sein Reittier ist der Dachs, sein Zeichen die Stein-
eule. Die Gefräßigkeit — ein stutzerhafter Jüngling — reitet auf dem Wolfe, auf der
Faust die Weihe. Luxuria hat die Ziege als Reittier und die Taube als Wahrzeichen
erwählt.
Die naheliegende Idee, die Tugenden und Laster den Kampf in Gestalt eines Tur-
niers austragen zu lassen, ringt sich in Frankreich erst verhältnismäßig spät durch. Von
besonderer Bedeutung ist ein lateinisches Manuskript im Besitze der Stiftsbibliothek
Vorau in Steiermark (74). uLumen animae, tractatus de Septem vitiis es virtutibus"
schrieb «Gotfridus canonicus et confrater noster ecclesie nostre Vorowensi... im
Jahre des Heils 1332. Der Hauptwert der Arbeit liegt darin, daß unser Kanonikus
die Tugenden und Laster, deren heiße Kämpfe er schildert, durch nicht ungeschickt
mit brauner Tinte gezeichnete Skizzen erläutert. Wir erblicken die allegorischen Ge-
stalten als schwer gewappnete Ritter auf symbolischen Reittieren. Den Angriff er-
öffnen die Tugenden, die mit eingelegten Turnierlanzen gegen die Laster anrennen,
die den wappengeschmückten Schild abwehrend vorhalten. Superbia, in der Faust
das blanke Schwert, sitzt auf einem Dromedar — super Dromedario —, das in der
Zeichnung vorsichtshalber als Hengst wiedergegeben ist, der Schild trägt als Symbol
den Adler, die Helmzier zeigt den Pfau, der Waffenrock den Löwen. Luxuria sprengt
auf einem Bären einher, in der Hand einen goldenen Pokal. Das Wappenschild trägt
die zweischwänzige Sirene. Ein Rosenkranz, auf dem ein Vogelpärchen sitzt, ziert
den Stechhelm, der Basilisk den Waffenrock. Der Geiz, den Geldsack auf dem Rücken,
sitzt auf dem sagenhaften Oryx, der in der Zeichnung als eine Mischung von Löwe
und Esel erscheint. Im Schilde prangt ein sitzendes Eichhörnchen, auf dem Helme hockt
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