T o u r n a i
Mit dem Niedergange der Tournaiser Manufakturen tritt die rein fabrikmäßige Her-
stellung der billigen Verdüren immer mehr in den Vordergrund, ohne jedoch die
solide, alte Art ganz verdrängen zu können; die in köstlicher Fülle aufgereihten Kinder
Floras werden zum Schema, sinken zu einer Art Tapetenmuster herab. Die Ent-
wickelung setzt bereits im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts ein. Das von Mon-
signore Barbier de Montault erwähnte Fragment im Museum zu Montauban illustriert
vortrefflich den Typ (S. 285). Auf schwarzem Grunde erscheinen, fein säuberlich geordnet,
stilisierte Blumenbüschel in rein flächenhafter Auffassung; blaue oder rote Glocken-
blumen wechseln mit einem eigenartigen, sclrwer zu definierenden Gewächs.
Um 1500 erreicht die Schematisierung den Höhepunkt. Tournaiser Yerdüren aus
dieser Zeitspanne gehören zu den Seltenheiten; Zeit und Mißachtung der Menschen
haben unbarmherzig mit den billigen Gebrauchsteppichen aufgeräumt. Nicht allein der
Mangel an geeignetem Vorbildermaterial gestaltet die Untersuchung der späteren Tour-
naiser Grünteppiche außerordentlich schwierig, vor allem trägt das ständige Zusammen-
arbeiten Tournaiser und Oudenaarder Ateliers dazu bei, jeden Unterschied zu ver-
wischen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte Oudenaarde der Löwenteil an der Schema-
tisierung des alten Tournaiser Verdürenmusters zuzuweisen sein. Soil bringt (33) einen
urkundlichen Beleg, der besser spricht als lange Auseinandersetzungen. Am 28. Juli
1480 erscheint vor dem Oberrichter von Tournai der Wirker Jehan de Vremont „le-
quel a confesse avoir recu de Josse de Heun, demorant ä Audenaerde un banequier de
verdure ... pour en faire ung exemplaire d'une tapisserie, lesquelles pieces il a promis
rendre et restituer audit Josse ou au porteur... endedans d'uy en ung mois . Der
beigefügte Ausführungspreis zeigt, daß es sich um einfache, schematisierte Muster handelt,
die sich der Tournaiser Wirker von seinem Oudenaarder Fachgenossen als Vorbild
ausleiht.
Maßgebend für die Zuschreibung der groben Verdüren an Tournai und Oudena-
arde — eine Trennung ist zunächst nicht möglich — ist die stilistische Abhängigkeit
von dem Fragmente zu Montauban, sowie die schon mehrfach berührte Lösung der
Bordüre, die für das Tournai des beginnenden 16. Jahrhunderts unverkennbar ist. In
erster Linie kommt ein Fragment in der Kathedrale zu Angers in Frage (Abb. 251).
Glockenblumen, Fingerhut und eine Staude mit tropfenförmigen, dreistrahligen Blüten
füllen den Grund, auf dem sich Hirsche, Hunde, Füchse, Kaninchen und allerhand
phantastische Vier- und Zweibeiner herumtreiben, die in einer für den Typ charak-
teristischen, unbeholfenen Auffassung wiedergegeben sind und dem Teppich ein gerade-
zu archaistisches Gepräge verleihen. Uber der blumigen Fläche erhebt sich die bergige
Landschaft; die mageren Hügel, in der Art des späten Tournaiser oder Oudenaarder
Hintergrundes mit dem durch Striche angedeuteten kümmerlichen Graswuchse, tragen
Burganlagen und vereinzelt stehende Behausungen. Den besten Maßstab für die zeit-
liche Beurteilung des Teppichs gibt das von einem Lorbeerkranze gerahmte Medaillon
in der Mitte der Blumenüäche, das ein Wappen und eine primitiv gezeichnete Land-
schaft faßt. Wir finden diese Anordnung des öfteren in flämischen Wandteppichen
aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts. Das prächtigste Beispiel besitzt das
Londoner Viktoria und Albertmuseum. Auf dunkelblauem Grunde stehen die schmalen,
gut detaillierten kleinen Blütenbüschel in der alten trefflichen Tournaiser Auffassung;
Löwe, Hirsch, Kaninchen, Fuchs und allerlei Vögel wirken als belebendes Moment
(Abb. 252). Drei kreisrunde Medaillons umschließen mit prächtigem Blumen- und Frucht-
gewinde eine fein gezeichnete Landschaft, in deren Mitte das Wappen der in Como einst
ansässigen Adelsfamilie der Giovio prangt. Die Bordüre arbeitet mit symmetrischen
Grotesken, Füllhörnern und Rankenwerk. Die Verdüre zu Angers ist das stark ver-
gröberte, schematisierte Gegenstück des Giovioteppichs. Es liegt die Vermutung nahe,
den Behang des Viktoria und Albertmuseums gleichfalls als ein Tournaiser Erzeugnis
anzusprechen, das einer der soliden, alten Manufakturen entstammt. Die Bordüren-
auffassung bildet keinen Hinderungsgrund für die Zuschreibung. Teppiche der gleichen
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Mit dem Niedergange der Tournaiser Manufakturen tritt die rein fabrikmäßige Her-
stellung der billigen Verdüren immer mehr in den Vordergrund, ohne jedoch die
solide, alte Art ganz verdrängen zu können; die in köstlicher Fülle aufgereihten Kinder
Floras werden zum Schema, sinken zu einer Art Tapetenmuster herab. Die Ent-
wickelung setzt bereits im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts ein. Das von Mon-
signore Barbier de Montault erwähnte Fragment im Museum zu Montauban illustriert
vortrefflich den Typ (S. 285). Auf schwarzem Grunde erscheinen, fein säuberlich geordnet,
stilisierte Blumenbüschel in rein flächenhafter Auffassung; blaue oder rote Glocken-
blumen wechseln mit einem eigenartigen, sclrwer zu definierenden Gewächs.
Um 1500 erreicht die Schematisierung den Höhepunkt. Tournaiser Yerdüren aus
dieser Zeitspanne gehören zu den Seltenheiten; Zeit und Mißachtung der Menschen
haben unbarmherzig mit den billigen Gebrauchsteppichen aufgeräumt. Nicht allein der
Mangel an geeignetem Vorbildermaterial gestaltet die Untersuchung der späteren Tour-
naiser Grünteppiche außerordentlich schwierig, vor allem trägt das ständige Zusammen-
arbeiten Tournaiser und Oudenaarder Ateliers dazu bei, jeden Unterschied zu ver-
wischen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte Oudenaarde der Löwenteil an der Schema-
tisierung des alten Tournaiser Verdürenmusters zuzuweisen sein. Soil bringt (33) einen
urkundlichen Beleg, der besser spricht als lange Auseinandersetzungen. Am 28. Juli
1480 erscheint vor dem Oberrichter von Tournai der Wirker Jehan de Vremont „le-
quel a confesse avoir recu de Josse de Heun, demorant ä Audenaerde un banequier de
verdure ... pour en faire ung exemplaire d'une tapisserie, lesquelles pieces il a promis
rendre et restituer audit Josse ou au porteur... endedans d'uy en ung mois . Der
beigefügte Ausführungspreis zeigt, daß es sich um einfache, schematisierte Muster handelt,
die sich der Tournaiser Wirker von seinem Oudenaarder Fachgenossen als Vorbild
ausleiht.
Maßgebend für die Zuschreibung der groben Verdüren an Tournai und Oudena-
arde — eine Trennung ist zunächst nicht möglich — ist die stilistische Abhängigkeit
von dem Fragmente zu Montauban, sowie die schon mehrfach berührte Lösung der
Bordüre, die für das Tournai des beginnenden 16. Jahrhunderts unverkennbar ist. In
erster Linie kommt ein Fragment in der Kathedrale zu Angers in Frage (Abb. 251).
Glockenblumen, Fingerhut und eine Staude mit tropfenförmigen, dreistrahligen Blüten
füllen den Grund, auf dem sich Hirsche, Hunde, Füchse, Kaninchen und allerhand
phantastische Vier- und Zweibeiner herumtreiben, die in einer für den Typ charak-
teristischen, unbeholfenen Auffassung wiedergegeben sind und dem Teppich ein gerade-
zu archaistisches Gepräge verleihen. Uber der blumigen Fläche erhebt sich die bergige
Landschaft; die mageren Hügel, in der Art des späten Tournaiser oder Oudenaarder
Hintergrundes mit dem durch Striche angedeuteten kümmerlichen Graswuchse, tragen
Burganlagen und vereinzelt stehende Behausungen. Den besten Maßstab für die zeit-
liche Beurteilung des Teppichs gibt das von einem Lorbeerkranze gerahmte Medaillon
in der Mitte der Blumenüäche, das ein Wappen und eine primitiv gezeichnete Land-
schaft faßt. Wir finden diese Anordnung des öfteren in flämischen Wandteppichen
aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts. Das prächtigste Beispiel besitzt das
Londoner Viktoria und Albertmuseum. Auf dunkelblauem Grunde stehen die schmalen,
gut detaillierten kleinen Blütenbüschel in der alten trefflichen Tournaiser Auffassung;
Löwe, Hirsch, Kaninchen, Fuchs und allerlei Vögel wirken als belebendes Moment
(Abb. 252). Drei kreisrunde Medaillons umschließen mit prächtigem Blumen- und Frucht-
gewinde eine fein gezeichnete Landschaft, in deren Mitte das Wappen der in Como einst
ansässigen Adelsfamilie der Giovio prangt. Die Bordüre arbeitet mit symmetrischen
Grotesken, Füllhörnern und Rankenwerk. Die Verdüre zu Angers ist das stark ver-
gröberte, schematisierte Gegenstück des Giovioteppichs. Es liegt die Vermutung nahe,
den Behang des Viktoria und Albertmuseums gleichfalls als ein Tournaiser Erzeugnis
anzusprechen, das einer der soliden, alten Manufakturen entstammt. Die Bordüren-
auffassung bildet keinen Hinderungsgrund für die Zuschreibung. Teppiche der gleichen
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